Veröffentlicht: 29.04.10
Science - Dossier Biodiversität

Artenkenner sterben aus

Dem Gerede um Biodiversität und deren Schutz zum Trotz steckt die Taxonomie, die wissenschaftliche Beschreibung und Abgrenzung von Arten, an Hochschulen in der Krise. Dabei ist sie eine wichtige Grundlage für die Biologie und insbesondere die Ökologie - und Basis zum Schutz der Vielfalt.

Peter Rüegg
Ohne Taxonomie wären diese Insekten namenlose Lebewesen: Die Raubfliege Triorla interrupta hat die Libelle Plathemis lydia erbeutet. (Foto: Thomas Shahan, flickr)
Ohne Taxonomie wären diese Insekten namenlose Lebewesen: Die Raubfliege Triorla interrupta hat die Libelle Plathemis lydia erbeutet. (Foto: Thomas Shahan, flickr) (Grossbild)

Andreas Müller ist ein Spezialist. Einer, der die 600 Wildbienenarten der Schweiz fast auf Anhieb kennt. Auch Reinhard Berndt hat sich ein Spezialgebiet zugelegt. Rostpilze, parasitische Pilze, die in Pflanzen leben, sind seine Forschungsobjekte. Und Matthias Baltisberger ist Botanikprofessor, der einen Grossteil der 3000 Schweizer Pflanzen in- und auswendig kennt. Trotz der Beschäftigung mit unterschiedlichen Organismen ist den drei ETH-Forschern etwas gemeinsam: Sie arbeiten in einem Zweig der Wissenschaft, der national und international kaum mehr gefördert wird, der Taxonomie.

Forscher, die Arten beschreiben und voneinander abgrenzen sowie die systematischen Einheiten, die so genannten Taxa, benennen. Taxonomie ist ein Untergebiet der Systematik. «Und dieser Begriff ist leider negativ angehaucht», sagt Müller. Zu altmodisch und brotlos, sagen andere Biologen, zu wenig wissenschaftlich, finden Verleger grosser Journals und viele Universitäten und mit ihnen diejenigen, die Forschungsgelder verteilen. Also stirbt die Kunst der Taxonomie allmählich aus.

Zu wenig Mittel

Denn Taxonomie ist keine «schnelle» Wissenschaft. Aufwändig ist es, abzuklären, ob eine Art nicht schon beschrieben ist, vielleicht unter einem anderen Namen in einer Sammlung ruht und darauf wartet, mit der «neuen» Art verglichen zu werden. Solche Abklärungen können Jahre dauern. Über 100 unbeschriebene Bienen allein aus Südeuropa, Nordafrika und dem Mittleren Osten bewahrt Müller in seiner Sammlung auf, bis er endlich Zeit findet, sie zu beschreiben und ihnen einen wissenschaftlichen Namen zu geben. Taxonomische Erkenntnisse wachsen langsam, die Forschung ist zeitraubend und unspektakulär. Publiziert werden Monographien einzelner Gattungen und Familien – Bücher, die oft das Lebenswerk der Autoren sind.

Das steht quer in der wissenschaftlichen Landschaft. «Heute muss in wissenschaftlichen Arbeiten DNS drin stecken, sonst kommt man nicht in die Journals mit hohem Impact Factor», sagt Matthias Baltisberger, Titularprofessor für Botanik am Institut für Integrative Biologie. Die Folge: Die Forschung hat die Taxonomie, die auch heute noch stark morphologisch ausgerichtet ist, aufgegeben und sich molekularen und biotechnologischen Feldern zugewandt.

Davon profitiert hat ein anderer Zweig der Systematik, die Phylogenie, also die Evolutionsgeschichte von Gattungen, Familien, Ordnungen und so weiter. «Dieser Forschungszweig ist am Boomen», sagt Müller. Seit die Molekulargenetik in evolutionären Fragestellungen eine immer grössere Rolle spielt, lassen sich Resultate aus der Phylogenie auch in «Science» publizieren. Das Beschreiben und Abgrenzen von Arten hingegen gilt als zu wenig sexy, die grossen Verlage haben dementsprechend kein Interesse daran.

Dagegen wehrt sich Berndt. Sich taxonomische und Artenkenntnisse anzueignen, egal in welcher Sparte, daure Jahre. Nur wer über diese Kenntnisse verfüge, entdecke neue Arten. «Dahinter stecken eine bedeutende intellektuelle Leistung und viele Jahre Aufbauarbeit.»

An ETH noch komfortable Situation

Dabei ist es an der ETH im Vergleich zu anderen Schweizer Hochschulen noch gut um die Taxonomie bestellt. Die Hochschule leistet sich neben der Insektensammlung auch die Mykologische Sammlung sowie das Herbar. Diese Sammlungen gelten als Archive und Werkzeuge der Taxonomen. «Die Sammlungen sind auch Archive der Biodiversität, unersetzbare und unbezahlbare Schätze», sagt Berndt. Und Müller ergänzt: «Die ETH ist heute die einzige Hochschule der Schweiz, die eine nennenswerte Entomologische Sammlung finanziert, und diese wird von Forschern aus dem In- und Ausland intensiv genutzt.»

Dennoch hat sich die taxonomische Forschung grösstenteils zu den Museen hin verlagert. Berndt hat zudem eine Verschiebung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Pilzen von Hochschulen weg, hin zu Laien festgestellt. Amateur-Mykologen haben denn auch das fünfbändige Werk «Die Pilze der Schweiz» herausgegeben.

Amateure seien oft sehr aktiv und hervorragende Artenkenner, sie kennen sich aber oft nur bei den essbaren Grosspilzen aus. Weniger vertraut sind sie mit der wissenschaftlichen Arbeitsweise. So seien Funde oft schlecht dokumentiert und dann für die Wissenschaft wertlos. «Damit kann man die Einwanderung oder Ausbreitung einer neuen Pilzart nicht nachvollziehen», sagt Berndt.

Der Niedergang der klassischen Mykologie in der Schweiz (und auch im Ausland) ist beispiellos. Lehrstühle und Professuren, auf denen früher klassische Mykologen forschten, wurden nach deren Emeritierung nicht neu besetzt oder anderen Fachrichtungen zugeschlagen. Heute ist die Systematische Mykologie an den Universitäten fast ausgestorben. «Und im letzten Jahr ist die Mykologische Gesellschaft der Schweiz verschieden, weil es keinen Nachwuchs mehr gibt», bedauert Berndt.

Dass die Taxonomie in der Krise steckt, ist für Matthias Baltisberger indes nichts Neues. Das letzte grosse Botanik-Projekt, das an Hochschulen initiiert und durchgeführt wurde, liegt 60 Jahre zurück. Damals arbeitete der ETH-Professor Hans Ernst Hess an der «Flora der Schweiz und angrenzender Gebiete», einer Monographie der Schweizer Farn- und Blütenpflanzen. 16 Jahre dauerten die Arbeiten daran, in dieser Zeit publizierte Hess - nichts. Das dreibändige Buch sollte sein Lebenswerk werden, den Einstieg in den «normalen» Publikationswettbewerb schaffte er nicht mehr.

Mangel an Artenkennern

Unter der mangelnden Wertschätzung der Taxonomie leidet auch die Ausbildung. «In diesem Bereich wird die Ausbildung noch weniger gefördert als die Forschung», sagt Baltisberger. Er habe weder Leute, die Artenkenntnisse vermitteln könnten noch würden die Stundenpläne Zeit dafür einräumen. «Um die Studierenden auf den Exkursionen zu betreuen, braucht es viele Hilfsassistierende, um welche wir immer wieder kämpfen müssen, und für dieses Jahr mit den stark gewachsenen Studierendenzahlen in Biologie und Pharmazie ist noch ungewiss, ob genügend Geld da sein wird.»

Noch immer hat die ETH eine gute Exkursions-Tradition. Auf botanischen Exkursionen lernen Studierende der Biologie, der Pharmazie und der Umwelt- und Agrarwissenschaften hunderte von Pflanzenarten kennen. Den Mangel an Artenkennern beheben diese Exkursionen langfristig jedoch nicht.

Ein Teufelskreis: Ohne Artenkenntnisse wird es unmöglich, taxonomische Studien zu betreiben. Die Krise in der Taxonomie schlägt auch auf die Ökologie und letztlich die Biologie durch. Will jemand zum Beispiel die evolutiv bedeutende Wechselbeziehung von Bienen und Blütenpflanzen studieren, sei es nötig, erst einmal alle Arten gründlich zu kennen. «Wenn wir den Organismen keinen Namen geben, dann ist auch weiterführende Forschung nicht mehr möglich», so Insektenspezialist Müller.

Mittlerweile gibt es verschiedene Initiativen, welche die Krise der Taxonomie und der Artenkenner ändern möchte. So soll Veröffentlichungen zur Taxonomie ein höherer Impactfaktor zugeschrieben werden als bisher. Zudem möchte auch das Bafu, das zu wenige Spezialisten hat, um das Biodiversitätsmonitoring der Schweiz zu betreiben, Artenkenntnisse fördern. Das Bundesamt hat die SANU in Biel beauftragt, Massnahmen zu erarbeiten, wie Artenkennerinnen und -kenner gefördert und geschult werden können.

Andreas Müller weiss, dass dies schwierig ist, aber nicht unmöglich. In seinem Blockkurs werden Studierende angeleitet, sich mit Libellen auseinanderzusetzen und Arten kennenzulernen. Nach anfänglichem Zögern oder gar Desinteresse entwickeln viele Neugier - und Artenkenntnisse. «Die Einnischung der zahlreichen Lebensraumspezialisten, eine ökologisch-evolutive Fragestellung, weckt in vielen Studierenden den Ehrgeiz, die Libellenarten mit Vor- und Nachnamen kennenzulernen», sagt Müller.