Veröffentlicht: 26.04.10
Science

Naturkatastrophe per Knopfdruck

Hochwasserschutzprojekte sollen Überschwemmungen verhindern. So auch im St. Galler Hänggelgiessen am Linthkanal. Ob das Projekt hält, was es verspricht, prüfen Forscher der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich.

Kathrin Schaffner
VAW-Ingenieur Peter Seitz (l.) und der Leiter der Forschungsgruppe Flussbau Volker Weitbrecht beobachten die Strömung im Modell Hänggelgiessen. (Bild: VAW / ETH Zürich)
VAW-Ingenieur Peter Seitz (l.) und der Leiter der Forschungsgruppe Flussbau Volker Weitbrecht beobachten die Strömung im Modell Hänggelgiessen. (Bild: VAW / ETH Zürich) (Grossbild)

Das Wasser im Kanal steigt an. Rasant. Nach wenigen Minuten erreicht es den obersten Rand. Bald ist die am Kanal liegende Flussaufweitung komplett aufgefüllt. Das Wasser drückt nun immer stärker gegen die Dämme und droht diese zu überströmen. Doch dann öffnet sich am Entlastungs-Wehr eine Klappe. Das Wasser schiesst durch die Öffnung - und fliesst in einem Nebenkanal ab.

Diese Naturgewalt ausgelöst hat ein einzelner Mann: Peter Seitz, Mitarbeiter der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der ETH Zürich. Etwa einmal pro Woche inszeniert er per Tastendruck am Computer eine Überschwemmung. Der simulierte Ernstfall geschieht in einem 19 Meter langen und 11 Meter breiten Modell im Massstab 1:30 in einer Halle im Obergeschoss der VAW mitten in Zürich.

Physikalisches Modell unersetzlich

Im Modell kann Peter Seitz beobachten und messen, was passiert, wenn in der Mitte des Linthkanals, im St. Galler Hänggelgiessen, eine Überlast eintritt. Das ist dann der Fall, wenn plötzlich 420 oder mehr Kubikmeter Wasser pro Sekunde den Kanal hinunterfliessen. Flussaufweitung, Klappe, Nebenkanal – was in Seitz‘ Modell verhindert, dass der Fluss die gesamte Linthebene überschwemmt und Schäden in der Höhe von mehreren hundert Millionen Franken verursacht, wird in natura erst gebaut. Und weil die Bauarbeiten am Linthkanal aufwändig und teuer sind, werden die vorgeschlagenen Veränderungen zuerst im Modell getestet.

Seit 80 Jahren überprüfen VAW-Wissenschaftler die Effizienz und Durchführbarkeit von Projektentwürfen. Oft führen sie dazu Versuche am physikalischen Modell durch. Zwar können sie bereits vieles numerisch im Computer berechnen, sagt Seitz. Die zweidimensionalen, grossräumigen Simulationen lieferten beim Projekt Hänggelgiessen wichtige Daten zu Wasserspiegellagen und Stromlinien. Ob sich aber hinter dem Entlastungs-Wehr Steine und Kies verschieben oder wie stabil die Klappe ist, lässt sich detailliert nur im physikalischen Modell beobachten.

Das Modellieren erfordert Geduld und Präzision. In einem ersten Schritt stellte Seitz den Flussabschnitt am Computer in einer 3-D-Konstruktion dar. Daraus wurden Schablonen aus Holzfaserplatten hergestellt und das Gelände aus Beton gegossen. Zuletzt wurde ein Teil der Topographie entsprechend dem realen Vorbild mit Steinen, Kies und Sand beweglich modelliert.

100 Millionen Franken für Dammsanierung

Über 20 Mal spielte Seitz das Hochwasserszenario im Hänggelgiessen-Modell seit letztem Herbst durch. Er fand heraus, dass die Architekten bei diesem Projekt gute Arbeit geleistet und die Hochwasserschutzmassnahmen so geplant und berechnet haben, dass sie eine Katastrophe abwenden würden. Für die Umsetzung schlägt er lediglich kleine Verbesserungen vor. So ist die Klappe mit 14 statt 15 Metern Länge stabiler und günstiger.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es im Hänggelgiessen zu einer Überlast kommt, ist sehr gering. Dass man trotzdem Vorkehrungen trifft, liege nicht nur an einem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis, sondern sei für Schweizer Flussbauprojekte mittlerweile sogar gesetzliche Pflicht, sagt Seitz. Die zuständige Linthkommission, die aus Vertretern der Kantone Glarus, Schwyz, St. Gallen und Zürich besteht, komme durch die geplanten Massnahmen dieser Pflicht nach.

Die Umgestaltung des Hänggelgiessen ist Teil des Projekts «Linth 2000». Für rund hundert Millionen Franken werden die 200-jährigen Dämme saniert und der Hochwasserschutz verbessert. Das gesamte Projekt soll bis 2013 abgeschlossen sein.

Gegen das Projekt Hänggelgiessen reichten die Anwohner Einsprache ein. Sie befürchteten, dass die Hochwassersicherheit an ihrem Wohnort, der Schänner Ebene, durch die Neugestaltung vermindert werde. Das Bundesgericht wies die Klage zurück. Die Ergebnisse aus den numerischen Simulationen und den Modell-Versuchen an der VAW zeigen, dass die Befürchtungen der Anwohner tatsächlich unbegründet sind.