Veröffentlicht: 26.04.10
Campus

Werner Oechslins ironisches Spiel mit dem «Ich»

Eloquent und gelehrsam, so wird man den Kunsthistorik- und Architekturprofessor Werner Oechslin in Erinnerung behalten. An seiner Abschiedsvorlesung vom Donnerstag nahm er die Zuhörer im Namen eines Hofnarrs namens «Ich» mit auf eine kulturhistorische Reise zur Selbstbestimmung.

Julia Guran
Werner Oechslin überbrachte dem Publikum zu seinem Abschied eine ironische Botschaft seines Ichs. (Bild: Julia Guran / ETH Zürich)
Werner Oechslin überbrachte dem Publikum zu seinem Abschied eine ironische Botschaft seines Ichs. (Bild: Julia Guran / ETH Zürich) (Grossbild)

«Seinem Ich mit aller Hochachtung und Liebe geweiht vom Verfasser». So betitelte Werner Oechslin, der scheidende Professor für Architektur- und Kunstgeschichte, seine Abschiedsvorlesung vom Donnerstag. Wer nun ein Loblied auf sein Ego erwartete, hatte sich von Oechslin auf eine falsche Fährte locken lassen. Mit der ironischen Ankündigung umging es der Architekturprofessor vielmehr geschickt, seine Person trotz des Anlasses allzu sehr in den Vordergrund zu rücken.
Die Auflösung des rätselhaften Titels enthielt er dem Publikum nicht lange vor, welches das Audimax im ETH-Hauptgebäude am Donnerstag bis auf den letzten Platz besetzte hatte. Die Worte stammen aus einem Buch mit dem Titel «Die Stuziade oder der Perückenkrieg», in der sich dessen Autor Gottfried Jakob Schaller über die Mode lustig macht, sein Ich zu verhätscheln. Dieses «Ich» machte sich Oechslin zunutze, liess es an seiner Stelle als eine Art Hofnarr auftreten und als Führer agieren, das die Zuhörerschaft auf einen kulturhistorischen Kurztrip mitnahm.

Das «Ich» in die Pflicht genommen

Oechslin liess sein «Ich» nicht allein, sondern bettete es in das Diktum «Ed io anche son pittore» («Auch ich bin ein Maler») ein, dem Leitmotiv seiner Vorlesung. Das Zitat stammt vom französischen Architekten Étienne-Louis Boullée, der es wiederum vom Maler Correggio hatte. Beide wollten damit ihre Ehrfurcht vor den Vorbildern ausdrücken, aber gleichzeitig ihre eigene Existenzberechtigung als Künstler bekräftigen. Bei Montesquieu und Herder hingegen fungierte es als Schlüsselwort, um dem «Ich» in seinem geschichtlichen Kontext einen Platz zu geben und die Notwendigkeit einer Philosophie der Menschheitsgeschichte zu begründen. Bis heute, so Oechslin, stelle das Diktum unser «Ich» in Frage und nehme es in die Pflicht.
In der heutigen Zeit angelangt, nutzte Oechslin die Gelegenheit, um sein eigenes «Ich» nach seiner Befindlichkeit zu fragen. Kritisch, doch stets mit einer Prise Selbstironie, erzählte er vom Unverständnis, das die ETH seinem Wunsch einer eigenen, anerkannten Architekturbibliothek in Einsiedeln lange Zeit entgegengebracht habe. Vor allem die Finanzierung erwies sich als schwieriges Dauerthema, denn lange habe die ETH den Wert seiner Sammlung nicht erkannt: «Wie sollte sich die Hoffnung erfüllen, dass in Einsiedeln nicht nur billige oder weniger billige Bücher stehen», fragte Oechslin in die Runde, «sondern ein für die ETH geradezu massgeschneidertes Instrument vernetzten Wissens, voller Potenziale für eine innovative Forschung». Kulturkompetenz sprach er der Hochschule rundheraus ab.

Publikationdruck führt zu Konkurrenzkampf an der Hochschule

Vergrämen liess sich Oechslin von der Erfahrung aber keineswegs, zumal die Forschungszusammenarbeit der ETH mit Oechslins Bibliothek mittlerweile vertraglich geregelt ist. «Sieh vorwärts, Werner, und nicht hinter dich» tröstete er sich mit einem Zitat aus Schillers Wilhelm Tell, in dem Gertrude ihrem Mann Werner Stauffacher Mut zuspricht.
Bloss entdeckte Oechslin auch in der Zukunft der ETH nichts Rosiges: Der Hang, alles zu quantifizieren, habe auch die Hochschule erfasst. Publikationsdruck führe zu  Konkurrenzkampf. «Ja, wir haben einen Strukturwandel weg von der eindeutig inhaltsorientierten, selbstverantworteten Veröffentlichung zum <show-up>. Passt wohl zu einer Welt, für die ausserhalb von Google und Wikipedia bald nichts mehr existiert», mahnte Oechslin und bedauerte, dass in der Wissenschaft die Vernunft zu Lasten der Vorstellungskraft siege.

Vom misslungenen Versuch der «Ent-Ichung»

Damit, so versprach Oechslin, habe er den Zeigefinger zum vorerst letzten Mal erhoben und verabschiede sich von seiner Funktion als Hofnarr: «Mein Ich tritt jetzt vom Katheder ab und wird Philosoph – und Maler», sagte Oechslin, und kehrte damit zu seinem Motto «Ed io anche son pittore» und zu Schallers ironischem «Ich» aus dem Vorwort zur «Stuziade» zurück. Der, so Oechslin, habe nach dem Lobgesang auf das «Ich» einen zweiten Text nachgeschoben, bei dem er versucht, sich durch «Ent-Ichung» seinem «Nicht-Ich» anzunähern, das ihm viel sympathischer ist. Der Versuch misslingt jedoch, denn der Verfasser scheitert an der Frage, wer dann seine Widmung zu Ende schreibt.