Veröffentlicht: 27.11.09
Darwinjahr

«Es gibt kein Marktgleichgewicht»

Der Zoologe Robert Lord May of Oxford sprach am Latsis Symposium über die darwinistischen Dynamiken des Bankensystems. Die Ökonomie kämpfe heute mit denselben Fehlannahmen bezüglich Gleichgewichten, wie die Ökologie in den 60er-Jahren, ist er im Gespräch mit ETH Life überzeugt.

Samuel Schläfli
«Die Turbulenzen im Bankensystem gehen zurück auf die darwinsche Frage nach dem Verständnis von evolutionärer Kooperation», ist Robert Lord May of Oxford überzeugt. (Bild: Samuel Schlaefli/ETH Zürich)
«Die Turbulenzen im Bankensystem gehen zurück auf die darwinsche Frage nach dem Verständnis von evolutionärer Kooperation», ist Robert Lord May of Oxford überzeugt. (Bild: Samuel Schlaefli/ETH Zürich)

Herr May, wie kommt ein Zoologe dazu, eine Bank zu beraten?
2006 machten Experten aus unterschiedlichen Wissenschaften auf einer internationalen Konferenz darauf aufmerksam, dass zwar sehr viel ins Risikomanagement von einzelnen Banken investiert wird, jedoch Initiativen fehlen, um die Risiken des gesamten Bankensystems zu minimieren. Ich schlug einem Freund der Bank of England deshalb vor, mich zusammen mit Ökologen und Biologen, also Leuten, die viel Erfahrung mit komplexen Systemen haben, diesem Problem anzunehmen. Wir haben bald bemerkt, dass das Verhalten der einzelnen Banken in den letzten sechs bis acht Jahren durchaus sinnvoll und nachvollziehbar war, jedoch zu einer zunehmenden Instabilität des Gesamtsystems führte.

Sie haben sich auch mit dem Wettbewerb beschäftigt und bezeichnen diesen als paradox. Weshalb?
Menschen profitieren voneinander, wenn sie kooperieren. Wer jedoch kooperiert und gleichzeitig noch zu seinen Gunsten mogelt, profitiert am meisten. Man will profitieren ohne die geringsten Kosten dafür zu tragen.

Und wie kommt nun Darwin ins Spiel, auf dessen Erkenntnissen Sie sich bei Ihren Beobachtungen stützen?
Alles geht zurück auf die darwinsche Frage nach dem Verständnis von evolutionärer Kooperation. Wie kooperieren Gruppen, die nicht direkt miteinander verbunden sind. Das ist eine der grossen unbeantworteten Fragen Darwins.

Ist der Mensch überhaupt zur Kooperation geboren?
Tests haben gezeigt, dass der Einzelne oft nicht in einem Gesamtsystem kooperiert, weil er sich durch individuelles Verhalten einen höheren persönlichen Profit erhofft – dies selbst, wenn am Ende aufgrund des eigenen, von der Gruppe abweichenden individuellen Verhaltens alle Teilnehmer verlieren.

Gibt es dafür aktuelle Beispiele?
Ja, zum Beispiel die Vorverhandlungen zum Klimagipfel in Kopenhagen. Einige Staaten wollen wirklich eine Veränderung und verhandeln fair. Andere sind stärker auf den individuellen Nutzen aus und machen Zugeständnisse nur unter der Voraussetzung, dass andere Staaten sich ihren eigenen Vorstellungen entsprechend verhalten. Daraus folgt, dass wir auf globaler Ebene bei weitem nicht die Massnahmen treffen werden, die die Umstände eigentlich erfordern.

Sie haben sich auch mit den organisatorischen Strukturen im Bankensystem beschäftigt. Was lief in den letzten Jahren schief?
Nach der grossen Depression von 1929 wurden mit dem «Glass-Steagall-act» Investmentbanken und Geschäftsbanken gesetzlich voneinander getrennt, um Sparer vor Spekulationen und Verlusten zu schützen. Das trug wesentlich zur Stabilität des Systems bei. Das Gesetz wurde später in den USA und in England verworfen. Mit relativ einfachen Modellen konnte ich zeigen, dass der Mix von Geschäfts- und Investmentbank zu einem Höchstgrad an Instabilität des Gesamtsystems führt.

Wie sieht es mit dem von Ökonomen oft postulierten Gleichgewicht in den Märkten aus?
Die Grundannahmen in der Ökonomie erinnern mich immer wieder stark an das Verständnis von Ökologie in den 60er-Jahren. Damals sprachen wir vom Gleichgewicht in der Natur. Heute wissen wir, dass es dieses nicht gibt, sondern nur unterschiedlich stabile Zustände. Banker sprechen immer noch vom allgemeinen Marktgleichgewicht, basierend auf freien Märkten mit perfekt informierten Menschen und rationellen Entscheiden. Doch es gibt genauso wenig ein allgemeines Gleichgewicht im Markt, wie es keine wirkliche Balance in der Natur gibt. Wir müssen neue Modelle für das Marktsystem finden, die der Realität besser gerecht werden.

Neben Ihnen und vielen hochkarätigen Rednern aus der Evolutionsbiologie und verwandten Gebieten hat auch Craig Venter am Latsis Symposium gesprochen. Er ist unter Wissenschaftlern nicht unumstritten. Wie stehen Sie persönlich zu ihm?
Als ich Chief Scientific Adviser der britischen Regierung war, setzte ich mich zusammen mit dem amerikanischen Kollegen stark dafür ein, dass Geninformationen im Zuge der Sequenzierung des menschlichen Genoms öffentliches Gut bleiben und nicht patentiert werden. Venters Unternehmen bekämpfte dieses Bestreben vehement. Als die Regierung Clinton ein entsprechendes Statement verlauten liess, sank der Börsenwert von Venters Unternehmen dramatisch. Spasseshalber sagte Craig Venter an einer Konferenz in Oxford, an der wir beide teilnahmen, er danke mir dafür, dass er Multimillionär geworden sei, denn ohne mich wäre er heute wahrscheinlich Multimilliardär. Obwohl ich in einigen Punkten nicht mit ihm übereinstimme, schätze ich Craig Venter sehr. Er hat diese enorme kreative und unternehmerische Energie, für die ich ihn bewundere.

Robert Lord May of Oxford ist Professor am Department of Zoology an der Oxford University. Er interessiert sich unter anderem für Dynamiken in Ökosystemen und anderen komplexen Netzwerken, mit speziellem Augenmerk auf deren Reaktionen auf Störungen. Er war von 2000 bis 2005 Präsident der Royal Society und davor Chief Scientific Adviser der britischen Regierung sowie Leiter des UK Office of Science and Technology. Er ist auch Mitglied des Climate Change Committee der britischen Regierung.