«Es gibt kein Marktgleichgewicht»
Der Zoologe Robert Lord May of Oxford sprach am Latsis Symposium über die darwinistischen Dynamiken des Bankensystems. Die Ökonomie kämpfe heute mit denselben Fehlannahmen bezüglich Gleichgewichten, wie die Ökologie in den 60er-Jahren, ist er im Gespräch mit ETH Life überzeugt.
Herr May, wie kommt ein Zoologe dazu, eine Bank zu
beraten?
2006 machten Experten aus unterschiedlichen
Wissenschaften auf einer internationalen Konferenz darauf aufmerksam, dass zwar
sehr viel ins Risikomanagement von einzelnen Banken investiert wird, jedoch
Initiativen fehlen, um die Risiken des gesamten Bankensystems zu minimieren.
Ich schlug einem Freund der Bank of England deshalb vor, mich zusammen mit
Ökologen und Biologen, also Leuten, die viel Erfahrung mit komplexen Systemen
haben, diesem Problem anzunehmen. Wir haben bald bemerkt, dass das Verhalten
der einzelnen Banken in den letzten sechs bis acht Jahren durchaus sinnvoll und
nachvollziehbar war, jedoch zu einer zunehmenden Instabilität des Gesamtsystems
führte.
Sie haben sich auch mit dem Wettbewerb beschäftigt und
bezeichnen diesen als paradox. Weshalb?
Menschen profitieren voneinander, wenn sie kooperieren.
Wer jedoch kooperiert und gleichzeitig noch zu seinen Gunsten mogelt,
profitiert am meisten. Man will profitieren ohne die geringsten Kosten dafür zu
tragen.
Und wie kommt nun Darwin ins Spiel, auf dessen
Erkenntnissen Sie sich bei Ihren Beobachtungen stützen?
Alles geht zurück auf die darwinsche Frage nach dem
Verständnis von evolutionärer Kooperation. Wie kooperieren Gruppen, die nicht
direkt miteinander verbunden sind. Das ist eine der grossen unbeantworteten Fragen Darwins.
Ist der Mensch überhaupt zur Kooperation geboren?
Tests haben gezeigt, dass der Einzelne oft nicht in einem
Gesamtsystem kooperiert, weil er sich durch individuelles Verhalten einen
höheren persönlichen Profit erhofft – dies selbst, wenn am Ende aufgrund des
eigenen, von der Gruppe abweichenden individuellen Verhaltens alle Teilnehmer
verlieren.
Gibt es dafür aktuelle Beispiele?
Ja, zum Beispiel die Vorverhandlungen zum Klimagipfel in
Kopenhagen. Einige Staaten wollen wirklich eine Veränderung und verhandeln
fair. Andere sind stärker auf den individuellen Nutzen aus und machen Zugeständnisse nur unter der Voraussetzung, dass
andere Staaten sich ihren eigenen Vorstellungen entsprechend verhalten. Daraus
folgt, dass wir auf globaler Ebene bei weitem nicht die Massnahmen treffen
werden, die die Umstände eigentlich erfordern.
Sie haben sich auch mit den organisatorischen Strukturen
im Bankensystem beschäftigt. Was lief in den letzten Jahren schief?
Nach der grossen Depression von 1929 wurden mit dem
«Glass-Steagall-act» Investmentbanken und Geschäftsbanken gesetzlich
voneinander getrennt, um Sparer vor Spekulationen und Verlusten zu schützen.
Das trug wesentlich zur Stabilität des Systems bei. Das Gesetz wurde später in
den USA und in England verworfen. Mit relativ einfachen Modellen konnte ich
zeigen, dass der Mix von Geschäfts- und Investmentbank zu einem Höchstgrad an
Instabilität des Gesamtsystems führt.
Wie sieht es mit dem von Ökonomen oft postulierten
Gleichgewicht in den Märkten aus?
Die Grundannahmen in der Ökonomie erinnern mich immer
wieder stark an das Verständnis von Ökologie in den 60er-Jahren. Damals
sprachen wir vom Gleichgewicht in der Natur. Heute wissen wir, dass es dieses
nicht gibt, sondern nur unterschiedlich stabile Zustände. Banker sprechen immer
noch vom allgemeinen Marktgleichgewicht, basierend auf freien Märkten mit
perfekt informierten Menschen und rationellen Entscheiden. Doch es gibt genauso
wenig ein allgemeines Gleichgewicht im Markt, wie es keine wirkliche Balance in
der Natur gibt. Wir müssen neue Modelle für das Marktsystem finden, die der
Realität besser gerecht werden.
Neben Ihnen und vielen hochkarätigen Rednern aus der
Evolutionsbiologie und verwandten Gebieten hat auch Craig Venter am Latsis
Symposium gesprochen. Er ist unter Wissenschaftlern nicht unumstritten. Wie
stehen Sie persönlich zu ihm?
Als ich Chief Scientific Adviser der britischen Regierung
war, setzte ich mich zusammen mit dem amerikanischen Kollegen stark dafür ein,
dass Geninformationen im Zuge der Sequenzierung des menschlichen Genoms
öffentliches Gut bleiben und nicht patentiert werden. Venters Unternehmen
bekämpfte dieses Bestreben vehement. Als die Regierung Clinton ein
entsprechendes Statement verlauten liess, sank der Börsenwert von Venters
Unternehmen dramatisch. Spasseshalber sagte Craig Venter an einer Konferenz in
Oxford, an der wir beide teilnahmen, er danke mir dafür, dass er Multimillionär
geworden sei, denn ohne mich wäre er heute wahrscheinlich Multimilliardär.
Obwohl ich in einigen Punkten nicht mit ihm übereinstimme, schätze ich Craig
Venter sehr. Er hat diese enorme kreative und unternehmerische Energie, für die
ich ihn bewundere.
Robert Lord May of Oxford ist Professor am Department of Zoology an der Oxford University. Er interessiert sich unter anderem für Dynamiken in Ökosystemen und anderen komplexen Netzwerken, mit speziellem Augenmerk auf deren Reaktionen auf Störungen. Er war von 2000 bis 2005 Präsident der Royal Society und davor Chief Scientific Adviser der britischen Regierung sowie Leiter des UK Office of Science and Technology. Er ist auch Mitglied des Climate Change Committee der britischen Regierung.
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