Veröffentlicht: 13.05.09
Mittwochskolumne

Von der Wichtigkeit bequemer Lehnstühle

Jürg Fröhlich
Jürg Fröhlich, ETH-Professor für Theoretische Physik. (Bild: H. Hostettler, D-PHYS)
Jürg Fröhlich, ETH-Professor für Theoretische Physik. (Bild: H. Hostettler, D-PHYS)

Wer kennt nicht jene Blockierung, gegen die man gelegentlich zu kämpfen hat, wenn man mit der Absicht, etwas zu Papier zu bringen, mit gespitztem Bleistift vor einem leeren, weissen Blatt sitzt! Dann empfiehlt es sich, für eine Weile in einem bequemen Lehnstuhl Platz zu nehmen, ein wenig zu entspannen und für sich zu klären, was man eigentlich sagen will, und ob man überhaupt etwas zu sagen hat, was selten der Fall ist – wie jedermann, der sich gewöhnt ist, Gedrucktes (auch so genannt Wissenschaftliches) zu studieren, bestätigen wird.

Ich empfehle allen Leistungs- und Verantwortungsträgern – und das sind wir alle – regelmässig einen bequemen Lehnstuhl zu benützen, aber aus anderen Gründen. Ein sehr kostbares Gut, dessen Verfügbarkeit uns erst zu Menschen macht, kommt uns in der postmodernen Welt mehr und mehr abhanden: die Zeit! Wir müssen es uns angewöhnen, uns Zeit zu nehmen oder zu stehlen, um in einem bequemen Lehnstuhl oder auf einem Spaziergang im Frühlingswald ein wenig Abstand von uns selbst und vom Alltagsstress zu gewinnen, vielleicht gar eine Sitzung zu verpassen – Feynman spricht in diesem Zusammenhang vom «principle of active irresponsibility».

Man sieht sich dann aufs Mal selbst aus der Vogelperspektive, und die Probleme, die sich vor einem auftürmen, sehen von oben gar nicht mehr so gross aus. Man beginnt sich zu fragen, was gut und was weniger gut läuft, wie und wo man zu viel Zeit vergeudet, was man mit mehr Eifer und Energie weiterverfolgen und was man lieber bleiben lassen sollte, was für gute und was für schlechte Entscheidungen man getroffen hat, ob man genug Zivilcourage aufgebracht hat, etwas zu tun, was möglicherweise nicht populär ist und wenig Beifall findet, aber trotzdem getan werden sollte, ob man mutig zu den Fehlern gestanden ist, die man gemacht hat, und ob man aus ihnen die richtigen Lehren gezogen hat, ob man redlich und anständig geblieben ist, ob man sich seinen Pflichten und seiner Verantwortung gestellt hat. Man sieht auch, ob man die Bedeutung und das Potential des eigenen Fachgebiets und der eigenen Tätigkeiten richtig einschätzt oder, wie heutzutage in unserer medialen und kommerzialisierten Welt sehr verbreitet, zumindest nach aussen, den Kolleginnen und Kollegen oder der Öffentlichkeit gegenüber, weit übertrieben darstellt. (obwohl man während schlafloser Nächte ob der relativen Bedeutungslosigkeit des eigenen Wirkens nicht selten verzagt ist). Selbstkritische Reflektionsübungen und Mussestunden im bequemen Lehnstuhl ohne messbare Ergebnisse unterminieren das Selbstwertgefühl nicht, sie stärken es! Sie impfen uns gegen Hypokrisie und Verfremdung. Sie erzeugen den Lebenssaft, aus dem wirklich originelle Ideen, Einsichten, Erkenntnisse und mutige Handlungen erwachsen.

Die heutige Welt mit ihrem Geschrei nach Effizienzsteigerung, nach Eigenverantwortung, nach lebenslanger Flexibilität, Mobilität und Offenheit für alle möglichen Veränderungen und Reformen stiehlt uns die Zeit und damit unsere Freiheit, Kreativität und Menschlichkeit. Sie macht uns mit allerlei raffinierten Methoden zu ihren Sklaven. Als Hochschullehrer denkt man ans Email, mit dem man einen nicht vernachlässigbaren Teil seiner Arbeitszeit vergeudet, an die Informationsbeschaffung im Internet, die nicht selten mit einer Überflutung an nicht ganz zuverlässiger Information endet, an all die Umfragen, die beantwortet werden sollten, und die Berichte, die man abfassen muss, obschon sie nachher nicht gelesen werden, an die Verantwortung für das Auffinden der billigsten Krankenkasse, des günstigsten Telekommunikations-Providers; für die Abklärung der eigenen Situation bei der Publica, die ohnehin alle Jahre wieder etwas anders ist, an diesen und jenen öffentlichen Vortrag, den man aus schlechtem Gewissen heraus, zu wenig Öffentlichkeitsarbeit geleistet zu haben, auch noch gehalten hat, und zwar begleitet von einer Power Point Präsentation, die die Zuhörer mit einem Überfluss an trockenen Fakten überwältigt hat, ohne wichtige Ideen und Konzepte vermittelt zu haben – so wie dies heutzutage in vielen Kolloquiumsvorträgen und Seminaren von aus aller Welt angereisten Referenten der Fall ist. Diese haben übrigens in der Regel so wenig Zeit für ihren Auftritt, dass sie mit dem Flugzeug anreisen müssen, was für den CO2–Haushalt der Atmosphäre nicht gut ist. Man speist dann einmal mit ihnen und gibt vor, ein paar interessante Diskussionen geführt zu haben. Nach ein paar Wochen weiss man kaum noch, worüber sie berichtet haben.

Wir haben ja auch keine Zeit mehr zu lesen, was alles an Gedrucktem erscheint. Die Publikation eines guten Resultates ist keine Garantie, dass es wahrgenommen wird. Nein, man muss an den richtigen Konferenzen, zu denen man per Flugzeug anreist, darüber berichten, die Kolleginnen und Kollegen dazu ermuntern, einen zu zitieren. Man publiziert in Nature‚ Science und PRL nicht unbedingt in der Hoffnung, gelesen zu werden, sondern weil dies gut aussieht.

Kurzsichtigen Managern, mutlosen Bundesräten und vielen anderen Verantwortungsträgern, auch im Bildungsbereich, mutet man Arbeitspensen zu, die ihnen für Aufenthalte in bequemen Lehnstühlen überhaupt keine Zeit mehr lassen. Wen wundert’s, dass sie dann nicht jene höhere Voraussicht zeigen und jene Leistungen erbringen, die man von ihnen gerne erwarten möchte. Sie sind Sklaven ihrer ‚Monsterjobs.’ – Mehr dazu ein anderes Mal!

Übrigens wollte ich hier wirklich vom Lehnstuhl und nicht vom «Lehrstuh berichten. Dieser ist zwar für mich ebenso wichtig wie jener, ist aber sicher nicht gerade bequem und nicht für selbstkritische Reflexionsübungen gedacht. Ich empfehle jedem Lehrstuhlinhaber auch Lehnstuhlinhaber zu werden! Denn: «Prima di essere ingegneri voi siete uomini» (F. De Sanctis)

Zum Autor

Jürg Fröhlich ist «ETH-Eigengewächs». Er wurde 1946 in Schaffhausen geboren, besuchte ennet dem Rhein das Gymnasium und legte 1965 seine Matura ab. Von 1965 bis 1969 studierte er an der ETH Physik und Mathematik. Er schrieb bei Klaus Hepp und Robert Schrader seine Diplomarbeit. 1972 promovierte er, ebenfalls an der ETH bei Klaus Hepp, mit einer Arbeit zum Infrarotproblem in der Quantenfeldtheorie. Danach folgten Fröhlichs Wanderjahre, die ihn nach Genf, an die Harvard University, nach Princeton und ans Institut des Hautes Etudes Scientifiques bei Paris führten, ehe er 1982 an die ETH Zürich (zurück) berufen wurde. Fröhlich interessiert sich für Quantenfeldtheorie und Quantentheorie grosser Systeme, die mathematische Behandlung von Modellen der statistischen Mechanik, insbesondere die Theorie der Phasenübergänge und für mathematische Methoden der theoretischen Physik. In seiner langen Laufbahn als Professor an der ETH gründete er unter anderem das «Center for Theoretical Studies». Der Schaffhauser hat mehrere bedeutende Wissenschaftspreise erhalten und ist Mitglied dreier Akademien. Er ist verheiratet, Vater zweier Töchter und Grossvater von sechs Enkelkindern.