Veröffentlicht: 05.12.08
Quantenelektronik

Der Tunneleffekt unter Beschuss

Seit 60 Jahren beschäftigen sich Physiker mit der quantenphysikalischen Beschreibung des Tunneleffekts. Zum ersten Mal konnte die Gruppe von Ursula Keller nun Zeitintervalle messen, mit welchen der Nachweis der Tunnelzeit von Elektronen in der laserinduzierten Ionisation möglich wird. Erstaunlich für viele Physiker: Eine entsprechende Verzögerung wurde im Experiment nicht gemessen. Ein etabliertes, vielleicht allzu einfaches Erklärungsmodell wankt.

Samuel Schläfli
Ursula Kellers Forschungsgruppe vor der Attosekunden-Uhr ''attoclock'' am Institut für Quantenelektronik:  Claudio Cirelli, Ursula Keller, Adrian Pfeiffer und Petrissa Eckle (von links nach rechts). (Bild: Heidi Hostettler)
Ursula Kellers Forschungsgruppe vor der Attosekunden-Uhr ''attoclock'' am Institut für Quantenelektronik: Claudio Cirelli, Ursula Keller, Adrian Pfeiffer und Petrissa Eckle (von links nach rechts). (Bild: Heidi Hostettler) (Grossbild)

Wenn neue Technologien die experimentelle Prüfung von theoretischen Modellen ermöglichen, müssen sich Wissenschaftler darauf gefasst machen, sich von gängigen Denkmustern zu verabschieden. Einen solchen Bruch mit Bewährtem könnte die aktuelle Publikation von Professorin Ursula Keller und ihrem Team am Institut für Quantenelektronik der ETH Zürich herbeiführen. Es gelang der Gruppe zum ersten Mal überhaupt, die Tunnelzeiten von Elektronen in starken Laserfeldern experimentell zu messen. Der Tunneleffekt ist dafür verantwortlich, dass gebundene Elektronen in Atomen durch eine energetische Barriere hindurchgehen können, obwohl die Energie der Barriere höher ist als die Bindungsenergie des Elektrons. Ein Überwinden dieser Barriere ist nach klassischer Physik nicht möglich, weshalb man von einem quantenmechanischen Vorgang ausgeht. Gerne wird zur Veranschaulichung das Bild einer Kugel bemüht, die nicht genügend Schwung hat, um eine Kuppe zu passieren und diese deshalb einfach „durchtunnelt“. „Unsere Messung hat entgegen gängiger Theorien gezeigt, dass diese sogenannte Tunnelionisation nahezu ohne Verzögerung abläuft“, stellt Keller fest. Die Ergebnisse ihrer aktuellsten Experimente sind in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „Science“ erschienen.

Kalibrierungsprobleme gelöst

Aufgrund von Berechnungen mehrerer Theoretiker ging man davon aus, dass die Durchtunnelung einer laserinduzierten Tunnelbarriere durch ein Elektron zwischen 500 und 600 Attosekunden (10-18s) dauert. Eine solche Zeitspanne war selbst mit den kürzesten Laserpulsen bis vor kurzem nicht messbar. Kellers Team stellte vergangenen Juni in „Nature Physics“ jedoch eine Methode vor, mit welcher mittels Femtosekunden-Laserpulsen Messungen bis zu 25 Attosekunden möglich wurden (siehe Kasten und ETH Life-Artikel „Eine Stoppuhr für den Tunneleffekt“). Kellers damalige Ergebnisse waren verbunden mit der Hoffnung auf baldige Tunnelzeit-Messungen. Diesem Unterfangen standen jedoch noch Kalibrierungsprobleme im Weg. Für eine Messung im Bereich von wenigen Attosekunden ist nämlich die Kalibrierung der „Time Zero“, also des absoluten Nullpunkts der Zeitmessung, unbedingt nötig. Die Kalibrierung war schliesslich einfacher, als im vergangenen Sommer noch angenommen: Bestimmt man die ursprüngliche Richtung des zur Messung eingesetzten Laserfeldes eindeutig, so erhält man einen klaren Referenzpunkt für den Winkel des „Uhrzeigers“ der Laseruhr. „Wir haben nun eine Uhr mit einer durchschnittlichen Genauigkeit von sechs Attosekunden, inklusive Fehlertoleranz sind es zwölf. Das ist ohne Zweifel die genauste Uhr der Welt“, stellt Keller nicht ohne Stolz fest.

Keine Tunnelzeit nach klassischem Verständnis

Mit diesem Instrument machte sich das Team daran, die Tunnelzeit in der laserinduzierten Ionisation von Heliumatomen zu überprüfen. „Es gibt dutzende von Theorien zum Tunnelprozess, doch oft beschreiben die Autoren mit ihrer „Tunnelzeit“ komplett unterschiedliche Dinge“, erklärt Keller. Ihre Gruppe einigte sich auf den Begriff „Tunneling delay time“ und nimmt in der aktuellen Publikation auf die Tunnelzeit nach Keldysh und die „Büttiker-Landauer traversal time for tunneling“ Bezug.

Physiker gingen bisher davon aus, dass die Verzögerung, die durch das „Durchtunneln“ der energetischen Barriere entsteht, mit einer Attosekunden-Uhr gemessen werden kann. Kellers Gruppe konnte im Experiment jedoch keine solche „Tunnelzeit“ nachweisen (mit einer oberen Grenze von 12 Attosekunden, gemittelt über verschiedene Laserfeldstärken und limitiert durch die Messgenauigkeit). Die Messung wurde vom Quantentheoretiker Harm Geert Muller nachgerechnet. Dieser kam zum Schluss, dass die Ergebnisse in Einklang mit der zeitabhängigen Schrödingergleichung stehen, einem der grundlegenden Gesetze der Quantenmechanik. Trotzdem behauptet Keller nicht, dass die Tunnelzeiten nach Keldysh falsch sind, „aber sie beschreiben nicht eine “echte“ Tunnelzeit nach unserem klassischen Verständnis, sondern etwas anderes“. Das gleiche gilt auch für die „Büttiker-Landauer traversal time for tunneling“, die in sich durchaus stimmig ist, wie Markus Büttiker von der Universität Genf, einer der Urheber dieser Theorie und Co-Autor der aktuellen Science-Publikation, der ETH-Gruppe darlegen konnte.

Raum für neue Ideen und Theorien

Unter Physikern – Ursula Keller mit eingeschlossen – ist das Erstaunen darüber gross, dass sich das seit vielen Jahren gängige Konzept der „Durchtunnelung“ in der laserinduzierten Ionisation von Atomen eventuell nun als unzulässig herausstellt. „Die Wissenschaft profitiert von solchen leicht fassbaren Bildern zur Reduktion von Komplexität. Oft haben diese aber einen limitierten Anwendungsbereich und können einen sogar zu falschen Ideen verleiten“, gibt die Physikerin zu bedenken.

Für Ursula Keller machen gerade solche Brüche mit gängigen Vorstellungen die Faszination der Quantenphysik aus. „Vielleicht werden unsere Ergebnisse eine ganze Reihe von Quantenphysikern zum Überdenken ihrer Theorien stimulieren und dadurch Raum für neue Ideen schaffen“, hofft Keller. Seit mehreren Wochen besucht sie Universitäten und diskutiert ihre Ergebnisse mit Physikern an der Columbia University in New York, Stanford in Kalifornien, Southhampton und Berlin. „Hausieren“ nennt dies die Physikerin und unterstreicht damit ihren Anspruch, wissenschaftliche Ergebnisse nicht nur zu publizieren, sondern aktiv am weltweiten Diskurs darüber teilzunehmen.

Die Attosekunden-Uhr

Die Attosekunden-Uhr „attoclock“, die den Raum von zwei Labors in Anspruch nimmt, basiert auf einem nahezu zirkular polarisierten Infrarot-Laserpuls und einem „COLTRIMS“-Detektor. Die Laserpulse schwingen darin nicht wellenförmig, wie dies bei einem Lichtstrahl normalerweise der Fall ist, sondern bewegen sich kreisförmig im Raum. Das elektrische Feld des Infrarotlichts zirkuliert während 2.4 Femtosekunden (fs) einmal räumlich um 360°. Dadurch entsteht eine Art Zifferblatt, das anstelle eines Sekunden-, einen Attosekunden-Zeiger trägt. Der Infrarotpuls ist nur etwa 5 fs kurz, womit die laserinduzierte Tunnelionisation im Wesentlichen innerhalb eines Zeigerumlaufs stattfindet. Der Beweis für die Funktion der Uhr mit einem Heliumatom wurde im Juli 2008 erstmals publiziert. Mit der „attoclock“ wurden die bislang präzisesten Zeitmessungen in der Atomphysik starker Felder gemacht.

Literaturhinweis

Eckle P, Pfeiffer AN, Cirelli C, Staudte A, Dörner R, Muller HG, Büttiker M & Keller U. Attosecond Ionization and Tunneling Delay Time Measurements in Helium. Science. 5 December 2008; Vol. 322. no. 5907: 1525-1529. doi:10.1126/science.1163439.