Veröffentlicht: 05.10.07
Institut für Kartografie

Die Geographie der Literatur

Eine Forschungsgruppe am Institut für Kartografie der ETH Zürich entwickelt einen literarischen Atlas Europas. An einer Expertentagung, die vom 4.-7. Oktober an der Universität Göttingen stattfindet, werden die ersten Karten vorgestellt.

Gabrielle Attinger
Der Kartenausschnitt zeigt einen Handlungsraum von ''Albin Indergand'' (1901), einem von Ernst Zahn verfassten historischen Bergroman.  Drei für den literarischen Raum typische Merkmale sind hier in einer animierten Karte visualisiert worden: Schauplätze ohne genaue Begrenzung (braun), eine transformierte Ortschaft (Anderhalden anstelle von Wassen, orange) und nicht lokalisierbare Schauplätze (gelb, sich bewegend. für Animation auf Bild clicken).
Der Kartenausschnitt zeigt einen Handlungsraum von ''Albin Indergand'' (1901), einem von Ernst Zahn verfassten historischen Bergroman. Drei für den literarischen Raum typische Merkmale sind hier in einer animierten Karte visualisiert worden: Schauplätze ohne genaue Begrenzung (braun), eine transformierte Ortschaft (Anderhalden anstelle von Wassen, orange) und nicht lokalisierbare Schauplätze (gelb, sich bewegend. für Animation auf Bild clicken). (Grossbild)

Das Projekt bringt Geografie und Literaturwissenschaft zusammen und ermöglicht einen völlig neuen Blick auf Landschaften, Städte und fiktive Geschichten: der literarische Atlas Europas, der am Institut für Kartografie der ETH Zürich im Entstehen ist. Initiantin ist die Literaturwissenschaftlerin Barbara Piatti. Sie hat über die Möglichkeit, literarische Handlungsräume kartografisch zu verorten, ihre Doktorarbeit geschrieben.

Ziel des interdisziplinären Projekts ist es, Literaturgeschichte aus dem Blickwinkel des Settings, des Ortes der Handlung zu schreiben. Literatur kann allerdings neue Orte kreieren, reale Orte umformen oder mit anderen verschmelzen lassen. Existierende Städte können verändert werden, oder es können auch komplett fiktive Regionen erfunden werden. Der Literaturatlas muss also eine enorme Bandbreite von Möglichkeiten aufzeigen. Dieser Anspruch unterscheidet das Projekt laut Piatti von der früheren Literaturgeografie, die die Literatur lediglich verortete, nicht aber unterschied zwischen den verschiedenen Graden von Authentizität.

Über den Atlas der Schweiz zur ETH

Schon Anfang des 20. Jahrhunderts habe es eine literargeografische Tradition gegeben, erzählt sie. Die Tradition brach allerdings ab und wurde erst in den 90er Jahren wieder aufgenommen. Die Impulse dafür kamen aus den USA: Franco Moretti brachte 1999 einen Atlas des europäischen Romans heraus.

„Das war mein Ausgangspunkt“, schildert Barbara Piatti. „In meiner Doktorarbeit beschrieb ich meine eigenen Ideen über dieses Thema und machte dazu auch kleine Karten. Ich merkte aber bald, dass ich ohne Hilfe eines Kartografen nicht weiterkommen würde.“ Der digitale „Atlas der Schweiz“, das modernste kartografische Werk auf dem Markt, führte sie zu ETH-Professor Lorenz Hurni. Sie fragte ihn an, ob er an einer Zusammenarbeit interessiert wäre. Er war es und lud gleich weitere Experten ein, am Projekt mitzuarbeiten: u. a. William Cartwright, Professor für Kartografie am Royal Melbourne Institute of Technology und seit August Präsident der International Cartographic Association.

Kartografie mit Bewegung

Als Modellregion diente Barbara Piatti bereits in ihrer Doktorarbeit der Vierwaldstättersee und das Gotthardgebiet. Diese Region ist in der Literatur besonders stark präsent. Piatti hat über 150 literarische Werke von Autoren aus der ganzen Welt gefunden, die ganz oder teilweise hier spielen. Gravitationszentren in dieser international geprägten literarischen Landschaft sind Luzern, der Urnersee und die Gotthardregion. Literarisch noch dichter bewohnt wird die Region, wenn die Reisen durch sie hindurch eingezeichnet werden. Der Literaturatlas soll auch diese Bewegungen der Charaktere durch den Raum aufzeigen. „Dazu musste eine eigene Software entwickelt werden, um die Bewegungen in eine Computeranimation umzusetzen“, erklärt William Cartwright. Er ist Spezialist für Multimedia-Anwendungen in der Kartografie und kam für das Projekt drei Monate als Gastprofessor an die ETH Zürich.

Zusammen mit Barbara Piatti, Hansruedi Bär, der die Programmierung der Software übernahm, und Anne-Kathrin Reuschel entwickelte Cartwright die Darstellung der literarischen Handlung im Raum für die interaktiven Karten. Eine besondere Herausforderung war die Symbolik etwa für Handlungsorte, die nicht präzis umrissen sind. „In der Kartografie strebt man nach möglichst hoher Präzision - vage Verortungen sind daher quasi ein Widerspruch zur Kartografie an sich“, formuliert es Cartwright.

Eine weitere Hürde stellen die politischen Grenzen dar. Sie verändern sich stetig, müssen also in der gewählten Zeitspanne am richtigen Ort erscheinen. Dies ist umso wichtiger, als viele literarische Handlungen in Grenzregionen stattfinden. Noch sind die Forschenden daran zu eruieren, wie viele der historischen Grenzen auf den Karten angezeigt werden können.

Auf den interaktiven Karten soll es zudem möglich sein, projizierte Orte zu verfolgen, also Wünsche von literarischen Charakteren, irgendwo anders zu sein, als sie gerade sind - Traum-, Sehnsuchts- und Erinnerungsorte. Sie werden mit unterschiedlichen Farben dargestellt.

Datenbank für ganz Europa

Die Karten sind keine simplen Illustrationen, sondern Werkzeuge für die Forschenden. Die Informationen der Karten basieren auf einer Datenbank, an die man beliebige Anfragen richten kann. Die entsprechende Karte zu einem Thema wird dann automatisch generiert. So lassen sich zum Beispiel die Herkunft der einzelnen Autoren unterscheiden und damit typisch englische oder typisch schweizerische Handlungsorte erkennen. Oder die Zeitspanne kann eingegeben und damit die fiktionale Geografie einer bestimmten Epoche eruiert werden. Bei der Gotthardregion zeigt dies etwa, dass die Gegend bis zum Ersten Weltkrieg literarisch dicht besiedelt wird, dann aber sterben literarische Akteure in dieser Gegend quasi aus.

Mit thematischen Indikatoren zeigt sich, dass das Rütli und Küssnacht durch Tell zu toten Zonen wurden: Es ist offenbar unmöglich, dort eine andere Geschichte zu verorten, weil sie zu symbolbeladen ist. Zu sehen ist auf den Karten zudem, welche Örtlichkeiten für die Handlung auswechselbar sind und welche nicht.

Literaturhistoriker werden mit dem Atlas komplexe Themen aufgreifen und die entsprechenden Karten als Ausgangspunkt für ihre Interpretationen nehmen können. Möglich werden Fragen wie etwa, weshalb einige Regionen dicht beschrieben, andere weisse Flecken im literarischen Metaraum bleiben, oder ob es literarisierte Regionen gibt, die ihr Potential ausgeschöpft haben.

Grenzenlose Literaturgeschichte

Langfristige Perspektive des Atlas ist die Neukonzeption einer vergleichenden europäischen Literaturgeschichte, die nicht an den sprach- oder politischen Grenzen halt macht. Vision ist, mit dem literatischen Atlas das literarische Erbe von ganz Europa zugänglich und vermittelbar zu machen.

Bislang werden im Literaturatlas drei Modellregionen dargestellt. Neben der Gotthardregion hat Barbara Piatti die Stadt Prag als flächenmässig überschaubare, aber hochkomplexe Metropole mit einer bewegten Geschichte sowie Schleswig-Holstein, eine flache Gegend zwischen Wasser und Land und historisches Grenzgebiet, ausgewählt.

Das Projekt wird in diesen Tagen an einer Fachtagung in Göttingen vorgestellt. Anlässlich eines Symposiums zum Thema „Art and Cartography“ in Wien im Februar 2008 wollen die Projektverantwortlichen ein wissenschaftliches Paper ausarbeiten.

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit geht noch mindestens zwei Jahre weiter. Dann soll die Datenbank mit den drei Modellregionen für andere Forschende geöffnet werden. Wenn das System gut funktioniert, können dann auch andere Regionen kartografiert werden.

Das Projekt wird während der gesamten Laufzeit von drei Jahren finanziert durch die GEBERT RÜF STIFTUNG, Basel.

 
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