Veröffentlicht: 08.10.13
Science

Freudiger Tag für Teilchenphysik

Nicht ganz unerwartet geht der Nobelpreis in Physik an den Briten Peter Higgs und den Belgier François Englert. Sie leisteten die theoretische Vorarbeit, die in die Entdeckung des Higgs-Bosons mündet. Indirekt werden mit dieser Preisvergabe auch das Cern und mehrere ETH-Forschende geehrt.

Peter Rüegg
Nobelpreis für Higgs-Boson-Theorie: Die Teilchenphysiker Christoph Grab, Rainer Wallny, Felicitas Pauss und Günther Dissertori (v.l.) applaudieren bei der Ankündigung des Nobelpreiskomitees. (Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich)
Nobelpreis für Higgs-Boson-Theorie: Die Teilchenphysiker Christoph Grab, Rainer Wallny, Felicitas Pauss und Günther Dissertori (v.l.) applaudieren bei der Ankündigung des Nobelpreiskomitees. (Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich) (Grossbild)

Viele haben es vermutet oder erwartet, doch ganz sicher kann man sich bei Nobelpreisen nie sein. Nachdem im Vorjahr das Cern die Beobachtung eines Higgs-Boson ähnlichen Teilchens verkündete, lag es nahe, dass die geistigen Väter des Teilchens, Peter Higgs von der University of Edinburgh und François Englert, Université Libre de Bruxelles, zu den Anwärtern für den diesjährigen Physik-Nobelpreis gehören. Zumal die beiden Männer bereits in einem stattlichen Alter sind. Zu reden gab allenfalls, ob das Cern mitgeehrt würde oder nicht.

Um 12:30 – mit ungewohnter Verspätung - hatte die wissenschaftliche Welt schliesslich die Gewissheit: Higgs und Englert wurde der Nobelpreis in Physik 2013 zugesprochen, nicht aber dem Cern. Geehrt werden die beiden Männer für ihre Theorien zum Higgs-Boson, dem letzten fehlenden Baustein der Standardtheorie der Teilchenphysik. Allerdings wurden das Cern und die Experimente, die zum Nachweis des Bosons nötig gewesen waren, prominent erwähnt.

Die beiden Physiker veröffentlichten 1964 unabhängig voneinander ihre Theorien in wissenschaftlichen Zeitschriften. Englert arbeitete dabei mit seinem inzwischen verstorbenen belgischen Kollegen Robert Brout zusammen. Higgs legte seine Arbeit als Alleinautor vor. Für den Nachweis dieses Teilchens bauten Physiker und Ingenieure aus aller Welt schliesslich bei Genf den grössten Teilchenbeschleuniger aller Zeiten, den Large Hadron Collider (LHC). Am LHC werden Protonen bei hohen Energien zur Kollision gebracht. Beim Zusammenprall generieren sie Teilchen, welche von zwei gigantischen Detektoren, ATLAS und CMS, aufgespürt werden. Am 4. Juli 2012 verkündete das Cern schliesslich, dass ein Teilchen identifiziert werden konnte, welches dem lange gesuchten Higgs-Boson mit grosser Wahrscheinlichkeit entspricht. Dies bestätigte die Theorien von Higgs und Englert.

Massgebliche Schweizer Beteiligung

An der Entdeckung des Higgs-Bosons waren Schweizer Institutionen von Anfang an massgeblich beteiligt: die ETH Zürich, das Paul Scherrer Institut und die Universität Zürich waren treibende Kräfte hinter dem Experiment.

Mit grossem Interesse verfolgten deshalb Teilchenphysikerinnen und Teilchenphysiker der ETH Zürich, die am CMS-Experiment Schlüsselrollen innehatten, die Nobelpreisankündigung. Felicitas Pauss, Günther Dissertori, Rainer Wallny und Christoph Grab, aber auch der emeritierte Professor Zoltan Kunzst, schauten sich die Live-Übertragung aus Stockholm in einem Seminarsaal auf dem Hönggerberg an.

Freude und Genugtuung über den Nobelpreis an Englert und Higgs war den ETH-Forschenden anzusehen. Indirekt ehrte das Nobelpreiskomitee damit auch das Cern und die vielen Tausend Forscherinnen und Forscher, die in diesem Rahmen zur Entdeckung des Higgs-Bosons beigetragen haben. «Die Wahl ist absolut nachvollziehbar», sagte Rainer Wallny, «dass die beiden Theoretiker geehrt werden, ist eine gute Lösung.» Die Tradition des Nobelpreises lasse es nicht zu, dass ausser beim Friedensnobelpreis Institutionen geehrt werden. Auch Günther Dissertori stimmte mit seinem Kollegen überein: «Der Preis für sie ist absolut verdient. Dass ‚nur‘ die Theoretiker geehrt werden, ist fair.» In einem solchen riesigen Unternehmen wie dem Cern einzelne Personen herauszupicken und auszuzeichnen, wäre unmöglich gewesen, betonte Christoph Grab. «Trotzdem bin ich begeistert, dass Higgs und Englert die Auszeichnung erhalten.»

Experimenteller Nachweis unerlässlich

Einig waren sich die ETH-Teilchenphysiker darin, dass es ohne den experimentellen Nachweis am Cern keinen Nobelpreis für Higgs oder Englert gegeben hätte. «Insofern ehrt der Nobelpreis die Leistungen aller am Experiment beteiligten und kollaborierenden Forschenden», sagt Dissertori.

Ein besonderer Moment war die Nobelpreisverleihung für Felicitas Pauss. «Ich freue mich für die beiden Herren, das war eine gute Entscheidung des Nobelpreiskomitees.» Der Preis sei für sie eine schöne Rekompensation. Am CMS-Experiment war sie für das Kristallkalorimeter, das Herzstück des Teilchendetektors CMS, verantwortlich. Dank dieses Instrumentes war es erst möglich, das Higgs-Boson nachzuweisen. «Ich habe bei diesem Teilprojekt eine riesige Verantwortung getragen», blickt sie zurück. Pauss hat ihre wissenschaftliche Schaffenskraft fast ausschliesslich in den Bau dieser riesigen Hardware-Komponente gesteckt. «30 Jahre hat es nun gedauert, um die Entdeckung zu realisieren. Ich freue mich ungemein, dass alles so gut funktioniert. Es ist das schwierigste Experiment, das ich je gemacht habe.»

Auf der Suche nach der Antimaterie

Zu wissen, ob es tatsächlich ein Higgs-Boson gibt, ist für die Physik von grosser Bedeutung, denn es gilt als wesentlicher Baustein des Standardmodells der Teilchenphysik. Das Standardmodell liefert eine Art Bauplan des Universums. Es wurde in den 1970er-Jahren formuliert. Das Higgs-Boson ist das einzige Teilchen dieses Modells, dessen Existenz nicht nachgewiesen werden konnte.

Nachdem die Suche nach diesem Teilchen nun erfolgreich abgeschlossen ist, konzentrieren sich die Forschenden auf weitere ungeklärte Fragen der Teilchenphysik. Noch unbekannt ist das Phänomen der dunklen Materie oder der Asymmetrie im Verhalten von Materie und Anti-Materie. Diese Experimente lassen sich teilweise auch am LHC durchführen. Wallny stellt ab 2015 neue Versuche mit dem CMS in Aussicht, die mit fast doppelt so hohen Energien durchgeführt werden. Die Arbeit geht den Teilchenphysikern noch lange nicht aus. «Das ist wie beim Bergsteigen: Man erklimmt einen Gipfel, geniesst den Erfolg ehe man den nächsten noch höheren Berg erblickt, den man besteigen möchte», sagt Günther Dissertori.

 
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