Veröffentlicht: 25.09.13
Kolumne

Das Heer der Unsichtbaren

Margrit Leuthold
Margrit Leuthold, Leiterin swissnex India. (Bild: ETH Zürich)
Margrit Leuthold, Leiterin swissnex India. (Bild: ETH Zürich) (Grossbild)

Ja, es gibt sie noch, die heiligen Kühe, welche das indische Stadtbild prägen. Selbst in einer Millionenstadt wie Bangalore sind sie häufig anzutreffen. Meist allein, selten in kleinen Gruppen, wühlen sie in Abfallhaufen herum, kreuzen gelassen belebte Strassen und verschwinden irgendwo im Dickicht der Häuser. Anscheinend haben sie alle irgendwo einen Besitzer. Da aber Raum sehr kostbar ist und die wenigsten Bewohner Platz für einen Stall haben, laufen die Kühe frei herum, verloren im Strassen- und Verkehrsgewirr.
Viele verenden kläglich, mit teilweise mehr als 30 Kilogramm Plastik im Magen. Man wünscht sich, dass sie wenigstens einmal im Leben die Erfahrung einer frischen Schweizer Weide mit saftigem Gras, Sonne und Luft hätten machen dürfen.

Neben den Kühen sind auch überall Hunde zu sehen. Hunderttausende, ja vielleicht Millionen Strassenhunde gibt es in Bangalore. Alle vom selben Typ: kurzhaarig, mittelgross, mager und schlau. Sie sind überall, auch sie Profiteure der morgendlichen Abfallberge, aber auch des Mitleids und der Tierfreundlichkeit der Inder, die häufig Futter an bestimmte Stellen legen. Eine Markierung im Ohr kennzeichnet diejenigen, welche grossflächig und systematisch geimpft und sterilisiert wurden. Sie stehen vor den wenigen Rotlichtern, erkennen, wann sie eine Strasse sicher überqueren können und leben ihr unabhängiges Leben. Oft sind sie nicht schnell genug, werden angefahren und hinken kläglich auf drei Beinen davon. Erst nachts können sie gefährlich werden: Hunderudel verfolgen Radfahrer und Fussgänger und öfters wird von nächtlichen Attacken berichtet.

Und es gibt Schwärme von Milanen, welche am Himmel kreisen. Manchmal sind es Dutzende, die von der Thermik über dem Asphalt und wohl auch von Kadavern und Abfällen profitieren. Am Abend werden sie von den Flughunden abgelöst, welche in die Jagdreviere ziehen. Dann sind es nicht Dutzende, sondern Hunderte, welche lautlos durch den Nachthimmel ziehen, alle in eine Richtung, mit unbekanntem Ziel.

Hinzu kommen die Menschen, von denen man selten spricht, die tagein tagaus unverzichtbare Dienste leisten, ohne Anerkennung, und unter fragwürdigen Bedingungen. Ich meine zum Beispiel die Strassenwischer, oft Frauen, welche langsam und stundenlang in gebückter Haltung, Abfall, Blätter und Staub zusammen wischend, den Strassenrändern entlang wandern; unsichtbar für die meisten, eine Selbstverständlichkeit, deren Existenz man kaum noch wahrnimmt.

Und dann die Wächter, die vor öffentlichen und privaten Gebäuden stehen. Die Meisten arbeiten für G4S, eine der weltweit grössten Sicherheitsfirmen mit 620‘000 Angestellten in 125 Ländern. Auf der Web-Seite der Firma werden sie als «Frontline Manager» bezeichnet, eine wohl etwas euphemistische Umschreibung. Gerade in Indien, wo Arbeitskräfte billig sind, ist es in Mode gekommen, vor jedes Haus einen Wächter zu stellen. Ein bekannter indischer Kolumnist schrieb kürzlich von dem Heer junger Inder, welche sich in schlecht sitzenden Uniformen zu Tode langweilen. Zirka 150 Franken pro Monat verdienen sie für 12-Stundenschichten. Sie stammen oft aus den nördlichen ärmsten indischen Staaten wo sie ihre Familien zurück lassen. Dennoch sind es meist freundliche und zuvorkommende Menschen, die ihr Los zumindest äusserlich mit stoischer Ruhe annehmen.

Und das Heer von Bediensteten, ohne die kein indischer Haushalt des Mittelstands auskommt; auch die junge Generation von Inderinnen und Indern erachtet sie als selbstverständlich. Frauen und Männer jeglichen Alters und Abstammung huschen durch die Strassen, um einzukaufen, bevor sie dann wieder in die Häuser verschwinden, um alle häuslichen Pflichten zu erledigen.

All diese Menschen und noch viele mehr, meist nicht wirklich geschätzt und dennoch unverzichtbar, sind auch ein Teil der unglaublich komplexen, vielfältigen indischen Gesellschaft. Eines der wichtigsten Anliegen an und in Indien ist das «Inclusive Development» - also eine Entwicklung, welche die Bedürfnisse der armen und ausgeschlossenen Teile der Bevölkerung, geschätzte 60 Prozent, mit einschliesst. Es bleibt zu hoffen, dass im Indien von morgen die Unsichtbaren sichtbar werden.

Zur Person

Margrit Leuthold leitet seit August 2012 swissnex India, das in Bangalore ansässig ist. Hauptziel der swissnex ist es, den Austausch im Bereich von Bildung, Forschung, Technologien und Innovation zu unterstützen und die Institutionen des Schweizer Hochschul- und Forschungsbereichs international zu vernetzen. Sie pflegen einen engen Austausch mit Universitäten, Forschungsinstituten und Unternehmen in der Gastregion und führen wissenschaftliche und kulturelle Anlässe durch. Davor leitete die promovierte Biologin bis Juli 2012 den Bereich Internationale Institutionelle Angelegenheiten der ETH Zürich. Für die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften war sie acht Jahre lang als Generalsekretärin tätig. Neben ihrer beruflichen Tätigkeit erholt Margrit Leuthold sich in den Bergen und beim Sport. Sie ist eine begeisterte Kinogängerin und liest sehr gern.

 
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