Veröffentlicht: 03.06.13
Science

Ein künstliches Ohr - fast wie echt

Die Form unserer Ohrmuscheln ist so charakteristisch, dass Chirurgen sie kaum ersetzen können, wenn wir durch Unfall oder Krankheit ein Ohr verlieren. ETH-Forschende haben einen Weg gefunden, Ohrimplantate so herzustellen, dass sie nicht nur echt aussehen, sondern sich auch echt anfühlen.

Angelika Jacobs
Ein Ohrimplantat, dass nicht nur aussieht sondern sich auch so anfühlt wie ein echtes Ohr. (Bild: Nimeskern L. et al., 2013, und Angelika Jacobs / ETH Zürich)
Ein Ohrimplantat, dass nicht nur aussieht sondern sich auch so anfühlt wie ein echtes Ohr. (Bild: Nimeskern L. et al., 2013, und Angelika Jacobs / ETH Zürich) (Grossbild)

Das Ohr ist ein komplexes Organ, nicht nur die Komponenten, die im Inneren des Kopfes versteckt liegen, sondern auch die äusseren: die Ohrmuscheln. Da sie grösstenteils aus Knorpel bestehen, einem Gewebe, das weder Nerven noch Blutgefässe enthält, kann der Körper sie nach einer Verletzung nicht selbstständig erneuern. Ein Ohr zu rekonstruieren ist eine Herausforderung für Chirurgen, weil sich Patienten in der Regel einen Ersatz wünschen, der nicht nur genauso aussieht wie das ursprüngliche Ohr, sondern sich auch so anfühlt.

Ein internationales Team um Kathryn Stok, Forscherin am Institut für Biomechanik der ETH Zürich, hat die mechanischen Eigenschaften des Ohrknorpels charakterisiert und wendet dieses Wissen zur Entwicklung von Ohrmuschelimplantaten an. Stok und ihr Doktorand Luc Nimeskern untersuchten, wie stabil und gleichzeitig flexibel der Ohrknorpel in den verschiedenen Teilen der Ohrmuschel sein muss. Dazu führten sie eine Reihe mechanischer Tests durch (hier zu sehen im Video), um die unterschiedlichen Knorpeleigenschaften zu messen und erstellten eine Karte, auf der sie die mechanischen Eigenschaften an den verschiedenen Stellen der Ohrmuschel erfassten. Im gleichen Experimentaufbau untersuchten sie die Eigenschaften neuer Biomaterialien. Daraus können die Forscher nun schliessen, wie man ein Biomaterial anpassen muss, um eine echte Ohrmuschel möglichst genau zu imitieren.

Hochgradig anpassbar

Das Material besteht aus einem Netz von Nanozellulosefasern, das von einer Bakterienart, Glucanacetobacter xylinus, gesponnen wird. «Die Bakterien produzieren dieses Gewebe natürlicherweise, um sich eine Umgebung zu schaffen, in der sie geschützt sind», erklärt Héctor Martínez Ávila, Doktorand an der Chalmers Universität in Göteborg und derzeit Gastwissenschaftler an der ETH. Gemeinsam mit Stok und Nimeskern testete und charakterisierte er das Biomaterial, das in Göteborg hergestellt wurde. «Ein Vorteil des Materials ist, dass wir es anpassen können, um weichere und festere Strukturen zu erzeugen, wie in einem echten Ohr», erklärt Stok. Ein weiterer Vorteil ist, dass der menschliche Körper dieses Material gut verträgt.

Anhand ihrer Vergleichsmessungen gelang es den Forschenden, in einem Testlauf ein künstliches Ohr herzustellen. Dazu scannten sie das gesunde Ohr eines Probanden mit dem Magnet-Resonanz-Tomographie-Verfahren und stellten mit diesen Daten über 3D-Druck eine Silikonform her. Darin liessen sie anschliessend die Bakterien ihr Gewebe aus Nanocellulose spinnen. Sie variierten die Festigkeit des künstlichen Ohrs, indem sie das Material an den Stellen, die fester sein müssen, komprimierten und für die weichere Teile Gelkügelchen als Platzhalter benutzen.

Anschliessend wuschen die Forschenden das Material sehr gründlich, um so die Bakterien und die Gelkügelchen zu entfernen. Dadurch erhielten sie eine Nanozellulosestruktur, die sie als Stützgerüst für Knorpelzellen benutzten. In einer Kulturschale liessen sie die Zellen auf der Struktur oder in die durch die Gelkügelchen frei gehaltenen Poren hinein wachsen und erzeugten so den Knorpel in der gewünschten Form. Die Struktur erfüllt somit zwei Funktionen: Sie dient als Gerüst, an dem neues Gewebe in der Kulturschale wachsen kann, und als Implantat, welches die neu geformte Ohrmuschel stützt.

Exakte Imitation

Dieses neue Verfahren ermöglicht eine genauere Rekonstruktion eines Ohrs als bisherige Methoden. Das heutige Vorgehen, eine Ohrmuschel zu rekonstruieren, hängt sehr vom Geschick und Können des Chirurgen ab. Der behandelnde Arzt entnimmt Knorpel aus einer Rippe des Patienten, formt den Knorpel nach Augenmass und pflanzt das «neue Ohr» unter die Haut ein. Der Körper produziert nun Bindegewebe, das den Knorpel mit der darüber liegenden Haut verbindet. In einer weiteren Operation wird das neue Ohr durch einen Schnitt hinten am Kopf gelöst, so dass es wie das ursprüngliche Ohr vom Kopf absteht. Zum einen kann diese Prozedur die Rippe des Patienten dauerhaft schädigen, andererseits hängt die Form des neuen Ohrs von den Fähigkeiten des Chirurgen ab. Momentan verwendete künstliche Materialien, die eine kontrolliertere Formgebung zulassen, sind entweder zu weich oder zu hart und führen abgesehen von Unbehagen mitunter zu Komplikationen.

Da sich die Nanozellulose exakt nach dem Scan des gesunden Ohrs zum gespiegelten Gegenstück formen lässt und die Festigkeit einer echten Ohrmuschel imitiert werden kann, rechnen die Forschenden damit, dass es bald den Schritt in die klinische Anwendung schaffen wird. «Die Ohrmuschel hat eine sehr komplexe Form im Vergleich zu anderen Knorpeln im Körper. Wenn wir die Prozedur für Ohrmuscheln etabliert haben, können wir sie auf jedes andere Knorpelgewebe übertragen.» Die grösste Nachfrage sei wahrscheinlich bei Gelenksknorpel wie zum Beispiel im Knie vorhanden, meint Stok, aber auch Nase, Kehlkopf und Bandscheiben bestünden aus Knorpel.

Literaturhinweis:

Nimeskern L, Martínez Ávila H, Sundberg J, Gatenholm P, Müller R, Stok KS. Mechanical evaluation of bacterial nanocellulose as an implant material for ear cartilage replacement. J Mech Behav Biomed Mater. 2013 Jun;22:12-21. DOI: 10.1016/j.jmbbm.2013.03.005.

 
Leserkommentare: