Veröffentlicht: 16.04.13
Science

Neues Material bringt sich selbst in Form

Inspiriert von Pflanzenteilen, die sich auf äussere Reize hin bewegen, entwickelten Materialwissenschaftler der ETH Zürich eine neue Methode: Mit dieser lassen sich Verbundstoffe aus einer Vielzahl von Materialien herstellen, die selbstständig eine vorprogrammierte Form einnehmen.

Maja Schaffner
Kiefernzapfen standen Paten für dieses neuartige Verbundmaterial, das aus unterschiedlichen Lagen zusammengesetzt ist, welche sich verschieden stark verformen können. (Bild: Prof. André Studart, ETH Zürich / flickr.com)
Kiefernzapfen standen Paten für dieses neuartige Verbundmaterial, das aus unterschiedlichen Lagen zusammengesetzt ist, welche sich verschieden stark verformen können. (Bild: Prof. André Studart, ETH Zürich / flickr.com) (Grossbild)

Pflanzenteile, die sich als Reaktion auf äussere Reize wie Temperatur oder Feuchtigkeit biegen, rollen oder verdrehen, kommen in der Natur relativ häufig vor. Oft hat das eine Funktion bei der Verbreitung von Samen. Kiefernzapfen zum Beispiel schliessen ihre Schuppen, wenn sie nass werden, und öffnen sie, wenn sie wieder trocken sind. André Studart, Professor für Komplexe Materialien am Departement Materialwissenschaft der ETH Zürich, und seine Gruppe haben nun das Wissen, wie diese Bewegungen zustande kommen, verwendet, um ein künstliches Verbundmaterial mit vergleichbaren Eigenschaften herzustellen.

Das Geheimnis der Kiefernzapfen

Aus der Literatur wussten Studart und seine Mitarbeiter, wie die Schuppen von Kiefernzapfen funktionieren. Für die Bewegung verantwortlich sind zwei aufeinander liegende, fest miteinander verbundene Schichten im Innern einer Schuppe. Die beiden Schichten bestehen zwar aus demselben quellbaren Material, dehnen sich aber unter Wassereinfluss auf unterschiedliche Weise aus. Der Grund dafür sind in die Schichten eingelagerte starre Fasern. Sie sind in jeder der Schichten spezifisch ausgerichtet und bestimmen dadurch die Richtung der Ausdehnung. Bei Nässe dehnt sich daher nur eine der beiden Lagen in Längsrichtung der Schuppe aus und krümmt sich auf die andere Seite.

Von der Natur inspiriert begannen die Wissenschaftler ein derart bewegliches Material im Labor herzustellen. Sie gaben Gelatine als quellbarem Grundmaterial feinste Aluminiumoxidpartikel als starre Komponente bei und gossen sie in viereckige Formen. Die Oberfläche der Aluminiumoxidplättchen wurde zuvor mit Eisenoxid-Nanoteilchen beschichtet, um sie magnetisch zu machen. Dadurch konnten die Forscher die Plättchen in einem sehr schwachen rotierenden Magnetfeld in die gewünschte Richtung auslenken. Auf die abgekühlte und ausgehärtete erste Schicht gossen sie eine zweite mit gleicher Zusammensetzung, deren starren Elementen die Forscher allerdings eine andere Richtung gaben als denjenigen der ersten Lage.

Programmierbares Formen

Dieses zweilagige Material schnitten die Wissenschaftler in Streifen. Je nachdem, wie die Schnittrichtung eines solchen Streifens zur Richtung der starren Elemente in den Gelatinestücken verlief, bogen oder drehten sich die Streifen unter Feuchtigkeitseinfluss unterschiedlich: Die einen rollten sich wie Schweineschwänze der Länge nach zu Spiralen, andere drehten sich locker oder sehr eng um die eigene Achse zu einer Helix, die stark an Spiralteigwaren erinnert. «Unterdessen können wir ziemlich genau programmieren, auf welche Art und Weise sich ein Streifen formen soll», erklärt Studart.

Die Forscher stellten auch längere Streifen her, die sich in verschiedenen Abschnitten unterschiedlich verhalten, sich also beispielsweise im ersten Abschnitt drehten, danach in eine Richtung verbogen und im Schlussabschnitt in die andere. Oder sie kreierten Streifen, die sich im Wasser in verschiedenen Abschnitten in Länge und Breite unterschiedlich ausdehnten. Ausserdem fertigten sie aus einem anderen Polymer Streifen an, die sowohl auf Temperatur als auch auf Feuchtigkeit reagierten – und zwar mit Drehungen in jeweils unterschiedliche Richtungen.

Beliebiges Material

Es sind denn auch die Drehbewegungen, die Studart am meisten interessieren und die bisher offenbar schwierig zu erreichen waren. «Biegebewegungen», sagt er, «sind relativ einfach.» Zweischichtige Metallverbindungen, die sich bei Temperaturveränderungen verbiegen, finden beispielsweise in Thermostaten breite Anwendung. Die neue Methode ist allerdings weitgehend materialunabhängig. Deshalb können damit potenziell alle Materialien, die auf äussere Reize reagieren – und das sind laut Studart ziemlich viele – selbst-verformbar gemacht werden. «Selbst die feste Komponente kann frei gewählt und durch das Aufbringen von Eisenoxid magnetisch gemacht werden», sagt er.

Dementsprechend zeigt Studart auf die Frage nach möglichen Anwendungen zwei komplett unterschiedliche Richtungen auf, in die seine Gruppe in Zukunft weiterforschen wird: Die eine ist die Herstellung von Keramikteilen, die sich anstatt wie bisher in eine Form gepresst zu werden, selbst in Form bringen. Eine weitere Einsatzmöglichkeit sieht der ETH-Professor in der Medizin. Mit der neuen Methode könnten Implantate hergestellt werden, die sich erst an ihrem definitiven Einsatzort im Körper entfalten und genau einpassen würden. «Im Idealfall wären diese auch biologisch abbaubar», ergänzt der Forscher.

Literaturhinweis

Erb RM, Sander JS, Grisch R & Studart AR. Self-shaping composites with programmable bioinspired microstructures. Nature Communications, 2012, published online 16th April. DOI: 10.1038/ncomms2666