Erdmännchen als Versuchskaninchen
Dominante Erdmännchen-Weibchen lassen untergeordneten Gruppenmitgliedern beim Überqueren gefährlicher Hindernisse buchstäblich den Vortritt: Stösst eine Gruppe dieser putzigen Tierchen auf eine Strasse, muss ein «Versuchskaninchen» her. Das zeigt eine Verhaltensstudie von Forschern der Universität Zürich und der ETH Zürich.
Wildtiere
sind in ihrer natürlichen Umgebung zahlreichen Risiken und Gefahren ausgesetzt
wie Fressfeinden, Krankheitserregern oder Hindernissen wie Schluchten oder
Wasseradern. Im Laufe der Entwicklungsgeschichte haben sich deshalb spezifische
Verhaltensweisen ausgebildet, die den Tieren den «sachgerechten» Umgang mit
natürlichen Risiken erlauben.
Nun hat der Mensch in der jüngsten Geschichte
zahllose neue Gefahren und Risiken wie befahrene Strassen geschaffen. Aus
evolutiver Sicht ist es ausgeschlossen, dass die Tiere diese Gefahren als
potenziell tödliches Risiko «kennen» und ein entsprechendes Repertoire an Verhaltensweisen
entwickeln konnten. Verhaltensbiologe Simon Townsend von der Universität Zürich
und sein Kollege, der Systemforscher Nicolas Perony von der ETH Zürich, haben
deshalb exemplarisch an wildlebenden Erdmännchen erforscht, wie sich diese sozialen
in Gruppen lebende Mangustenart gegenüber menschgemachten Risiken verhalten.
Leittier lässt anderen den Vortritt
Dazu beobachtete Townsend in einem Wildtierreservat der Kalahari mehrere Erdmännchen-Gruppen. Durch das Reservat führt eine ziemlich stark befahrene Strasse, die die Territorien der Tiere zerschneidet. Auf ihrem Weg von einem Bau zum anderen sind die Erdmännchen deshalb gezwungen, die Strasse zu überqueren. Anhand von Feldbeobachtungen haben die Forscher herausgefunden, dass in meisten Fällen die ranghöchsten Tiere - die dominanten Weibchen - , ihre Gruppen bis an die Strasse führen. An der Strasse geben sie die Führung aber häufig an ein rangtieferes Individuum ab. Das untergeordnete Tier überquert dann als «Versuchskaninchen» die Strasse als Erstes.
Umorganisation an der Spitze
Auf der Basis der Beobachtungsdaten entwickelte Nicolas Perony ein relativ einfaches Computermodell, das erstmals das Verhalten einer Erdmännchen-Gruppe, in der es unterschiedliche Rollen gibt, simulierte. Damit erhofften sich die beiden Forscher besser zu verstehen, was sie in der Natur beobachtet haben. Das Modell simuliert eine Gruppe von acht Erdmännchen, wobei Perony einem der virtuellen Tiere die Rolle des Leittiers zuordnete. Im Modell stossen die acht Agenten auf eine virtuelle Barriere, die wie die Strasse wirkt.
Das Modell zeigte die Umorganisation an der Spitze der Gruppe deutlich auf. Der ETH-Forscher schliesst daraus, dass dominante Weibchen und untergeordnete Tiere Risiken, die von der Strasse ausgehen, unterschiedlich stark wahrnehmen. Diese Fähigkeit könnte ausreichen, um zu erklären, weshalb sich dominante Weibchen an der Strasse in eine weniger exponierte Position innerhalb der Gruppe zurückfallen lassen und die Führung einem untergeordneten Gruppenmitglied übertragen.
Schaden durch «Versuchstier» minimiert
Durch sein hohes Risikoempfinden scheint sich das Alpha-Weibchen «egoistisch» zu verhalten. Aus Sicht der gesamten Gruppe ist das Verhalten allerdings sinnvoll. Erdmännchen minimieren den Schaden an der Gruppe, sollte das «Versuchstier» sein Leben lassen. Denn das ranghöchste geschlechtsreife Weibchen ist für den Nachwuchs und das Fortbestehen der Gruppe verantwortlich. Beobachtungen von anderen Forschern zeigen, dass eine Erdmännchen-Gruppe auseinanderbrechen kann, wenn das Alpha-Weibchen einem Beutegreifer zum Opfer gefallen ist.
Perony und
Townsend deuten das Verhalten an der Strasse als flexible Anpassung von
stammesgeschichtlich alten Verhaltensweisen an bisher unbekannte Bedrohungen.
Die Tiere können angeborene Verhaltensmuster offenbar abrufen und sie auf neuartige
menschgemachte Risiken übertragen. Unklar
ist, ob die Erdmännchen wirklich den Verkehr als Bedrohung wahrnehmen.
Eine Strasse
sei in erster Linie ein offener Teil des Lebensraums, der den Erdmännchen keine
Deckung bietet und sie dadurch für Raubfeinde wie Adler oder Schakale zu einer
leichten Beute macht, sagt Townsend. Die Tiere meiden deshalb von Natur aus offene
Stellen ihres Territoriums. «Sie bewegen sich lieber im Schutz von Büschen und
anderer natürlichen Strukturen», ergänzt Perony. Die Studie weckt die Hoffnung,
dass sich Wildtiere bis zu einem gewissen Grad mit der zunehmenden Veränderung
ihrer natürlichen Lebensräume zurechtkommen.
Erdmännchen
Die Erdmännchen werden als Teil des Kalahari
Meerkat-Projekts im Kuruman River Reserve (Südafrika), seit längerem erforscht.
Alle Tiere der überwachten Gruppen sind farbig markiert und mit Chips ausgestattet,
damit sie individuell erkennbar sind. Sie sind sich zudem an die Präsenz von
Menschen gewöhnt. Erdmännchen leben in Gruppen von bis zu 40 Individuen. An der
Spitze der Gruppe steht das Alpha-Paar, das alleine für Nachwuchs sorgt. Die
anderen Tiere aus früheren Würfen helfen den Leittieren bei der Aufzucht der
Jungen – also ihren eigenen Geschwister. Das Gruppengefüge der Erdmännchen ist
hoch komplex und fasziniert Verhaltensforscher seit langem.
Literaturhinweis
Perony N, Townsend SW. Why did the meerkat cross the road? Flexible adaptation of phylogentically-old behavioural strategies to modern-day threats. 2013. PloS One, published online 18th February. DOI: 10.1371/journal.pone.0052834
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