Forschen, wie sich Graphen im Kleinen verhält
Die ETH Zürich ist über Klaus Ensslin, Professor für Experimentalphysik, am «Graphene Flagship»-Projekt beteiligt. ETH Life sprach mit ihm über die Vorzüge von Graphen und über seine persönliche Vision des Wundermaterials.
Herr Ensslin, die
Europäische Kommission hat die Erforschung von Graphen zu einem ihrer zwei Flaggschiffprojekte
erkoren. Was macht das Material so speziell, dass ihm ein
Forschungsgrossprojekt gewidmet wird?
Graphen ist einzigartig. Es ist ein dünnes Material, eine
Art Film, und besteht aus einer einzigen atomaren Schicht Kohlenstoff. Es ist
das leitfähigste Material, das heute bekannt ist. Zugleich ist es transparent,
härter als Diamant, und es vereint scheinbar widersprüchliche Eigenschaften wie
maximale Elastizität und maximale Reissfestigkeit. Zudem ist es vergleichsweise
kostengünstig in der Herstellung. Graphen gilt als wahres Wundermaterial mit
einem riesigen Potenzial, auch für wirtschaftliche Anwendungen.
Was sind mögliche
Anwendungen?
Schon in diesem oder im nächsten Jahr wird es auf dem Markt
Smartphones geben, deren Touchscreens statt auf Indiumzinnoxid auf Graphen
basieren. Indium ist giftig und die Vorräte gehen bald zur Neige. Graphen kann als
Touchscreen eingesetzt werden, weil es zugleich leitfähig und transparent ist. Diese
Anwendung ist in der Entwicklung sehr weit fortgeschritten. Weitere mögliche
zukünftige Anwendungen sind Leiterbahnen auf Computerchips, Graphen als
Werkstoff für Batterien und Solarzellen oder als Leichtbaumaterial für
Flugzeuge. Die Liste potenzieller Anwendungen ist lang und geht über die
Ingenieurwissenschaften hinaus bis in die Biologie. Mit dem Flagschiff-Projekt
geht es der EU letztlich darum, die europäische Wirtschaft bei der Umsetzung
von Graphen-Technologien in eine führende Rolle zu bringen.
Wo liegt
Forschungsbedarf?
Nicht nur die industrielle Forschung und die
Materialwissenschaften beschäftigen sich heute mit Graphen. Es gilt auch,
physikalische Grundlagen oder neue Synthesewege zu erarbeiten, sich mit Umwelt-
und Gesundheitsaspekten zu befassen oder neue Anwendungen für die Elektronik zu
finden. Das Flagschiff-Projekt hat 11 Teilprojekte, die all dies abdecken.
«Leading house» des
Flagschiff-Projekts ist die schwedische Hochschule Chalmers. Dort wird heute
Abend gefeiert, nehme ich an. Sie sind ja auch am Projekt beteiligt. Wie gross
ist die Freude bei Ihnen?
Ich freue mich natürlich auch, keine Frage. Wir haben schon
mit vielen europäischen Kollegen «per E-Mail angestossen».
Was wird Ihr Anteil
sein am Projekt?
Unsere Gruppe arbeitet in dem Teilprojekt mit, bei dem es um
die physikalischen Grundlagen geht. Wir interessieren uns dafür, wie sich das
Material im Kleinen verhält, auf der Nanometer-Skala und unter Berücksichtigung
der Quantenphysik, die in diesem Massstab zum Tragen kommt. Das Ziel unserer
Forschung ist letztlich, mit Graphen neuartige Systeme zu entwickeln –
sogenannte Quantensysteme – mit noch nie dagewesenen Eigenschaften. Wohin die
Reise geht und welche konkreten Anwendungen dereinst aus dieser Forschung
resultieren werden, ist offen. Wir betreiben Grundlagenforschung. Es geht
zunächst darum, die physikalischen und quantenphysikalischen Eigenschaften
dieser Quantensysteme zu verstehen.
Können Sie ein
Beispiel geben?
Wir wollen beispielsweise kleine Inseln von Graphen auf verschiedenen
Substraten herstellen. Graphen hat eine Wabenstruktur, wobei die Ränder dieser
Struktur unterschiedlich beschaffen sein können. Wir werden versuchen, die
Ränder gezielt zu manipulieren, und anschliessend die elektronischen Effekte
untersuchen, die durch diese Ränder hervorgerufen werden. Dazu braucht es sehr
empfindliche Messtechniken, die wir in unserer Gruppe entwickelt haben.
Wann wird das
Flagschiff-Projekt beginnen?
Vieles ist noch unklar. Bis das Geld der EU in den einzelnen
Forschungsgruppen ankommt, müssen unter anderem noch die Kriterien erarbeitet
werden, nach denen das Geld unter den Projektpartnern verteilt wird. Nach
meinem Wissen sind diese Kriterien noch nicht abschliessend definiert.
Wie werden Sie das
Geld einsetzen, wenn es dann fliesst?
Wie bei den meisten Forschungsprojekten wird der grösste
Teil des Geldes für Personalkosten eingesetzt werden. Konkret werden wir unser bereits
existierendes Graphen-Team an der ETH Zürich um einige zusätzliche Mitarbeiter
vergrössern können.
Und wann ist mit den
ersten Resultaten des Projekts zu rechnen?
Es kommt darauf an, was Sie mit Resultaten meinen. Die Graphen-Community
ist schon jetzt unglaublich aktiv. In den letzten Jahren ist die Zahl der Ergebnisse
und wissenschaftlichen Publikationen auf diesem Gebiet förmlich explodiert.
Was ist Ihr persönlicher
Traum, wenn Sie an die Zukunft der Graphen-Forschung denken?
Unser Ziel ist es, einen Graphen-Quantenpunkt zu entwickeln,
der ein Elektron enthält mit einem Spin, der lange stabil bleibt. Ein
Quantenpunkt ist ein künstlich gebautes System, das sich im Wesentlichen wie
ein Atom verhält. Es könnte die Einheit für einen zukünftigen Quantencomputer
sein. Es gibt theoretische Vorhersagen, dass Spins in Kohlenstoff-basierten
Strukturen wesentlich stabiler sein sollten, als in den meisten Halbleiterumgebungen.
Zur Person
Klaus Ensslin (52) ist
Professor für Experimentalphysik an der ETH Zürich. Er ist im Schnittbereich
der Quantenphysik und der klassischen Physik tätig und interessiert sich
insbesondere für Halbleitersysteme und Quantenstrukuren. Dabei arbeitet er an der
Entwicklung neuer Materialien und ihrer Optimierung, insbesondere ihrer Reinheit.
Quantenstrukturen sind Strukturen, die sich ähnlich verhalten wie einzelne
Atome, einzelne Photonen oder einzelne Ionen.
Ensslin ist ausserdem Direktor des Nationalen
Forschungsschwerpunkts Quantum Science and Technology (NFS QSIT).
In einem Teilprojekt dieses Forschungsverbunds arbeiten mehrere Gruppen von der
ETH Zürich sowie den Universitäten Basel und Genf an Graphen-basierten Quantenstrukturen.
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