Kommt der Abschied vom gedruckten Buch?
Lange schon ist er angekündigt, der Abschied aus der Gutenberg-Galaxis. Das Dumme ist nur, er will einfach nicht kommen, ... zumindest nicht so schnell, wie sich das der eine oder andere Prophet gewünscht hätte.
Jetzt ist es offensichtlich im deutschsprachigen Raum doch soweit:
Die seit Jahren angekündigten, drastischen Veränderungen beim Lesen von Büchern
scheinen sich nun Schritt für Schritt zu entwickeln. Es ist vielleicht noch
keine Revolution, aber immerhin steigen die Verkaufszahlen für E-Books seit
etwa zwei Jahren konstant an; wenn auch auf niedrigem absoluten Niveau.
Trotz einer Steigerung um 100 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, liegt der Anteil für elektronische Bücher in Deutschland im Jahr 2012 lediglich bei 2 Prozent des Gesamtmarktes. Die optimistisch prognostizierten 15 Prozent für das Jahr 2015 liegen jedoch immer noch deutlich unter den 25 Prozent, die der US-amerikanische Markt für E-Books bereits heute aufweist. (Einigermassen verlässliche Zahlen für die Schweiz liegen bedauerlicherweise nicht vor.)
Sowohl bei Amazon als auch im gesamten US-amerikanischen Markt haben die Verkäufe von E-Books diejenigen für Hardcover-Ausgaben mittlerweile überflügelt. Pessimistische Auguren aus der traditionellen Ecke der deutschsprachigen Verlagswelt prophezeien darüber hinaus - mit hochgezogenen Augenbrauen - ein Ansteigen der Verkaufszahlen für E-Books bis auf 50 Prozent des Buchmarktes innerhalb der nächsten fünf Jahre. Obwohl man also leicht den Eindruck gewinnen könnte, es gehe um irgendetwas Schreckliches, stellt sich doch die Frage, wo aus Sicht der Kunden eigentlich das Problem ist?
Unterscheiden sich gedruckte Bücher wirklich grundsätzlich von E-Books oder stellen letztere nicht lediglich eine andere Präsentationsform des eigentlich gleichen Inhaltes dar? Zumindest für den überwiegenden Teil der heute auf dem Markt befindlichen E-Books wird man dies wohl in dieser Form feststellen können. Auch hier ist das Buch in linearen Sequenzen und Abfolgen strukturiert. Ein Wort folgt dem nächsten, ein Satz reiht sich an einen vorherigen, eine Seite folgt der anderen. Insofern ist ein elektronisches Buch, das lediglich die digitale Version der Printausgabe darstellt, ebenfalls noch Teil der «alten Welt».
Man kann also Entwarnung geben: Der Sprung vom gedruckten Buch zum
E-Book stellt keinen revolutionären Bruch dar und der Erfolg etwa in den USA
zeigt, dass die Menschen diese Medienform bereitwillig akzeptieren. Anders sieht
die Lage bei den neuen Medien aus. Nach dem Medien- und Kommunikationstheoretiker Norbert
Bolz kommen sie eben nicht mehr linear daher, sondern sind charakterisiert durch Komplexität, Unsicherheit, Vernetzung
und Unstrukturiertheit.
Die neuen Kommunikationsstrukturen werden also geprägt sein durch Multimedialität, Visualisierung von Inhalten, Mobilität und Interaktivität usw. Dies alles sind Attribute, die das gedruckte und elektronische Buch, wenn überhaupt, dann nur sehr eingeschränkt leisten kann.
Es geht also nicht so sehr um die Frage «gedrucktes Buch» oder «E-Book», sondern um die Feststellung, dass das Buch als solches seine Bedeutung als Leitmedium verlieren wird; in welcher Form auch immer es vorliegt. Die Rolle des Leitmediums wird mit einiger Wahrscheinlichkeit der Computer übernehmen, da nur er die genannten Randbedingungen für die neuen Medien erfüllen kann.
Andererseits wäre es ein grober Irrtum zu glauben, dass das Medium
Buch an sich am Ende wäre, dass es überhaupt keine Bücher mehr geben würde.
Vermutlich wird es ganz anders kommen: Nach Norbert Bolz wird das Buch, in
welcher Form auch immer, einen (neuen?) Aufschwung erleben, da es grundlegende
menschliche Erwartungen erfüllt. Ein Buch beginnt auf der ersten Seite, Kapitel
folgt auf Kapitel, und es endet auf der letzten Seite.
Der Wunsch der meisten
Menschen nach einer überschaubaren Welt, nach Ordnungsmustern und
nachvollziehbaren Strukturen wird gerade vom klassisch strukturierten Buch am
besten erfüllt. Dies bedeutet in letzter Konsequenz, dass es eigentlich irrelevant
ist, ob ich ein gedrucktes Buch oder ein E-Book lese. Solange beide in der
klassischen Form linearer Sequenzen und Abfolgen strukturiert sind, befinden
wir uns in der traditionellen Welt und somit auf «sicherem Terrain».
Die Frage, für welche der beiden Varianten wir uns jeweils entscheiden, ist also keine Entscheidung pro oder contra Buch, sondern eine Frage von persönlichen Vorlieben und Interessen. Somit wird auch das gedruckte Buch in Zukunft seine Bedeutung haben. Die wird es allerdings mit den verschiedensten E-Books-Varianten sowie mit einer Vielzahl von Multimedia-Applikationen teilen müssen. Das Zeitalter des gedruckten Buches als Leitmedium ist allerdings vorüber.
Zum Autor
Wolfram Neubauer ist der Direktor der
ETH-Bibliothek. Neubauer wurde am 15. September 1950 in Rain/Lech (D) geboren.
Er studierte Mineralogie und Chemie an der TU München und Universität München.
Seine Doktorarbeit verfasste er in den Jahren 1979 und 1982 über ein
geochemisches Thema am Mineralogisch-Petrografischen Institut der Universität
München.Von 1981 bis 1983
absolvierte Neubauer eine postgraduale Ausbildung zum wissenschaftlichen
Bibliothekar und war anschliessend für mehrere Jahre als Leiter der Bibliothek
eines internationalen Pharmaunternehmens tätig. Bis Ende 1996 war er Leiter der
Zentralbibliothek des Forschungszentrums Jülich, einer der grossen nationalen
Forschungseinrichtungen Deutschlands. Seit dem 1. Januar 1997 ist er der
Direktor der ETH-Bibliothek. Nebenberuflich ist er in verschiedenen Fachgremien
tätig (u.a. Mitglied im Ausschuss für Wissenschaftliche Bibliotheken und
Informationssysteme der DFG, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des
Deutschen Museums).
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