Veröffentlicht: 10.01.13
Science

Auf Schicht im Teilchenbeschleuniger

Bald ruht der Teilchenbeschleuniger LHC am Cern bis zur Wiederaufnahme der Experimente im Frühjahr 2015. ETH Life begleitete den Teilchenphysiker Rainer Wallny auf seiner vorläufig letzten Schicht beim Grossdetektor CMS.

Fabio Bergamin
Rainer Wallny schreitet die Serveranlage des CMS-Experiments ab, knapp 100 Meter im Untergrund ETH Life begeleitete ihn auf seiner letzten Schicht. (Bild: Roman Klingler / ETH Zürich)
Rainer Wallny schreitet die Serveranlage des CMS-Experiments ab, knapp 100 Meter im Untergrund ETH Life begeleitete ihn auf seiner letzten Schicht. (Bild: Roman Klingler / ETH Zürich) (Grossbild)

Die Wände sind wie tapeziert mit Dutzenden von Bildschirmen. Darauf sind Zahlen, farbige Kurven und Statusmeldungen zu sehen, die vom Zustand des Ringbeschleunigers LHC und des Teilchendetektors CMS zeugen. Physiker können hier im Kontrollraum des CMS-Experiments verfolgen, wie tief im Untergrund Protonen (also Kerne von Wasserstoffatomen) auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und kontrolliert zur Kollision gebracht werden. Und sie haben in Echtzeit Zugriff auf die Messungen derer Zerfallsprodukte.

Der Kontrollraum befindet sich in einer Art Gewerbegebäude auf der grünen Wiese, in Frankreich, einige Kilometer vom Cern-Hauptsitz in Meyrin bei Genf entfernt, genau über der Kaverne des riesigen CMS-Detektors. Im Falle eines Defekts könnten Techniker von hier mit einem Lift fast 100 Meter in die Tiefe gelangen.

Rund um die Uhr besetzt

ETH Life besucht hier Rainer Wallny, Professor für Teilchenphysik an der ETH Zürich. Er ist heute turnusgemäss Schichtleiter des CMS-Experiments. «Als solcher bin ich dafür verantwortlich, dass die Kaffeemaschine im Kontrollraum stets mit genügend Kaffee gefüllt ist. Das ist meine wichtigste Aufgabe hier», schmunzelt er, und Schalk blitzt in seinen Augen.

Wallny stapelt natürlich tief. Die Belegschaft des Kontrollraums führt einen 3-mal-8-Stunden-Schichtbetrieb rund um die Uhr, und Kaffee hilft ihnen zweifellos dabei, aufmerksam zu bleiben. Doch die Aufgabe von Wallny und seinem Team von Postdocs und Doktoranden aus aller Herren Länder ist anspruchsvoll. Unter anderem müssen sie dafür sorgen, dass alle wissenschaftlich interessanten Teilchenkollisionen auch tatsächlich aufgezeichnet werden. Kollisionen, die beispielsweise Hinweise auf das Higgs-Boson (siehe Kasten) oder auf dunkle Materie geben.

Spreu vom Weizen trennen

Denn es wäre schlicht nicht möglich, alle vom Detektor aufgezeichneten Daten permanent abzuspeichern. 20 Millionen Mal pro Sekunde misst der Detektor Signale im Umfang von einigen hundert Kilobytes. «Selbst die Supercomputer des Cern sind angesichts der Datenflut nicht schnell genug und böten für diese Datenmenge nicht genügend Platz», sagt Wallny. Algorithmen im Computersystem errechnen daher die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Kollision «interessant» ist. Und nur die interessanten Kollisionen schaffen es auf den Datenspeicher.

Der Weizen wird so zwar automatisch von der Spreu getrennt, doch ohne die kompetente Überwachung von Fachleuten geht es nicht. Zu kostbar sind die Daten, beispielsweise von jenen Kollisionen, die Rückschlüsse auf die Existenz eines Higgs-Bosons liefern.

Solche Kollisionen sind selten: Im Jahr 2012 lief der LHC praktisch ununterbrochen, der Detektor CMS hat insgesamt mehrere Milliarden Kollisionen aufgezeichnet – viel mehr als die Wissenschaftler erwarteten. Allein in den letzten vier Monaten wurde dieselbe Menge an Daten genommen wie seit Beginn der LHC-Datennahme bei hohen Energien im März 2010. Nur ein paar hundert dieser aufgezeichneten Kollisionen waren sogenannte Higgs-Ereignisse. Und da will man verhindern, dass ein solches Ereignis wegen eines technischen Problems, wie beispielsweise eines Computerabsturzes, nicht registriert wird. Sollte eine solche Fehlfunktion eintreten, muss die Schichtbesatzung, der Wallny vorsteht, schnell handeln, um den Fehler entweder selbst zu korrigieren oder Experten zu alarmieren, die rund um die Uhr sieben Tage die Woche zur Verfügung stehen.

Zweijährige Wartung

Während das ETH-Life-Team den Kontrollraum besucht – an einem der letzten Tage, an dem im LHC Protonen beschleunigt werden vor der planmässigen Revision des Beschleunigers in diesem Jahr –, zeigt sich die Technik allerdings von der kapriziösen Seite. Aufgrund eines Defektes des Beschleunigers kreisen keine Protonen durch den 27 Kilometer langen unterirdischen Ring und somit bleiben auch die Kollisionen aus. «Kurze Ausfälle kommen hin und wieder vor», sagt Wallny. Der LHC wird alle zehn bis zwölf Stunden entleert und wieder neu mit Protonen gefüllt. Wie uns Wallny später erklären wird, funktioniert während unseres Besuchs ein Magnet des «Füllstutzens» des Beschleunigers nicht. Erst nach unserer Abreise wurde der Defekt behoben und der Beschleuniger wieder hochgefahren.

Wenn die Datennahme am LHC nun während zwei Jahren ruhen wird, werden die Techniker den Beschleuniger komplett revidieren. Auch werden sie die Lötstellen der Beschleuniger-Magnete überprüfen und, falls nötig, reparieren. Nach einem Unfall im Jahr 2008, der auf mangelhafte Lötverbindungen zurückgeführt wurde, konnten nicht alle Magnete überprüft werden. Daher lief der LHC bisher mit etwa halber Energie als ursprünglich geplant. Voraussichtlich ab 2015 wird er dann mit den 13 oder 14 Teraelektronenvolt, für die er konzipiert wurde, betrieben werden.

Suche nach dunkler Materie

Die Teilchenphysiker werden in den nächsten Monaten den Pulk an Messdaten des Jahres 2012 auswerten – mehrere tausend Terabytes. Es ist anzunehmen, dass mit den Daten auch das im vergangenen Jahr am Cern entdeckte Teilchen, bei dem es sich möglicherweise um das lange gesuchte Higgs-Boson handelt, genauer beschreiben lässt. Doch dieses Teilchen ist längst nicht das einzige, wonach die Physiker mit dem CMS-Experiment suchen. So geht es beispielsweise auch um die Suche nach Teilchen, die die Existenz der dunklen Materie beweisen würden. «Wir wissen, dass es solche Teilchen gibt, und haben die Hoffnung, es mit dem CMS-Experiment detektieren zu können», sagt Wallny. «Ausserdem gibt es viele weitere offene Fragen der Teilchenphysik, auf die wir mit den nun vorliegenden Daten oder mit den Daten, die ab 2015 mit der höheren Energie gewonnen werden, Antworten suchen.»

Higgs-Boson: Goldstandard nicht für 2013 erwartet

Im vergangenen Juli sorgten die Wissenschaftler am Cern für Furore. Sie gaben die Entdeckung eines neuen Teilchens bekannt, bei dem es sich wahrscheinlich um das lange gesuchte Higgs-Boson handelt. Es wäre das letzte fehlende Teilchen im Puzzle des sogenannten Standardmodells der Teilchenphysik. Diese heute gängige Physiktheorie sagt die Existenz eines solchen Teilchens voraus. Es würde erklären, warum die Bestandteile des Universums überhaupt eine Masse haben. Das Higgs-Boson ist der Schlussstein im Gebäude des Standardmodells.

Mit zwei Grossdetektoren am Cern – dem Detektor CMS, zu dessen Design und Konstruktion die ETH Zürich führende Beiträge geleistet hat, und dem Detektor Atlas – lassen sich Rückschlüsse auf die Existenz des Higgs-Bosons ziehen. Das Teilchen selbst kann zwar nicht direkt nachgewiesen werden; es zerfällt sehr schnell. Wohl aber können die beiden Detektoren die dabei entstehenden Zerfallsprodukte messen.

Die bisher gemessenen Eigenschaften des am Cern entdeckten neuen Teilchens entsprechen innerhalb der noch grossen Fehlergrenzen jenen, die theoretische Physiker für das Higgs-Boson vorausgesagt haben. Unklar ist jedoch unter anderem noch, ob auch die quantenphysikalischen Eigenschaften des Teilchens, wie beispielsweise sein sogenannter Spin, mit der Theorie übereinstimmen. Nur wenn das neue Teilchen den Spin 0 hat, könnte es sich dabei um das Higgs-Boson handeln.

Rainer Wallny geht davon aus, dass die im Jahr 2012 gewonnenen Messdaten, die in den kommenden Monaten ausgewertet werden, weitere Hinweise zum Spin des neuen Teilchens liefern werden. «Die Daten werden zwar kaum ausreichen, um in diesem Jahr die Eigenschaften nach dem sehr präzisen Goldstandard der Teilchenphysik zu bestimmen», sagt Wallny. «Sie könnten aber reichen, um eine für mich befriedigende Antwort auf die Frage zu erhalten, ob das gefundene Teilchen ein Higgs-Boson ist.»

 
Leserkommentare: