Der Gipfel der globalen Null
In der Schweiz gibt es bekanntlich viele wunderschöne Berge. Obgleich ich grossen Spass am Bergwandern habe, möchte ich heute von der Besteigung eines politisch bedeutsamen Gipfels sprechen, dem Gipfel der totalen nuklearen Abrüstung.
Der soeben wiedergewählte US-Präsident Barack Obama hat sich im April 2009 in einer Rede in Prag für die möglichst baldige Besteigung dieser Bergspitze engagiert. Wie bitte? Ausgerechnet die USA, die bisher als einziges Land im August 1945 zwei Nuklearwaffen gegen die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki eingesetzt und seither ein riesiges Atomwaffenarsenal aufgebaut haben, wollen nun die destruktivste aller Waffen abschaffen? Ja, richtig gehört, und es gibt sehr gute Gründe dafür.
Wie schon andere US-Präsidenten vor ihm hat er erkannt,
dass Amerika selbst immer weniger auf Kernwaffen für seine nationale Sicherheit
angewiesen ist. In Konflikten wie Irak oder Afghanistan haben sie nichts
genützt. Ausserdem entwickeln die USA moderne, auch sehr weitreichende
konventionell bestückte Waffen, darunter unbemannte Drohnen, die gegenüber
Atomwaffen aus der Sicht der US-Militärs den unschätzbaren Vorteil haben, dass
sie auch eingesetzt werden können.
Darüber hinaus befürchtet Obama, dass in den kommenden
Jahren immer mehr Staaten zu Nuklearwaffen greifen. Bis jetzt ist ihre Anzahl
relativ begrenzt geblieben. Der 1970 in Kraft getretene Nukleare Nichtverbreitungsvertrag
(NVV) gestattet den fünf Staaten, die schon damals über Kernwaffen verfügten,
weiterhin ihren Besitz: den USA, der Sowjetunion (heute Russland), China,
Frankreich und Grossbritannien. Indien, Pakistan und Israel sind die einzigen
Staaten, die dem NVV nicht beigetreten sind und Atomwaffen gebaut haben.
Nordkorea hat als NVV-Mitglied heimlich an Nuklearwaffen gebastelt, ist dabei
erwischt worden und hat daraufhin das Abkommen gekündigt. Alle anderen Staaten
sind vertraglich an ihren Verzicht auf Kernwaffen gebunden.
Doch die Vertragsstaatengemeinschaft ist zerstritten. Viele Nichtkernwaffenstaaten fordern von den fünf Atommächten die ihnen versprochene nukleare Abrüstung ein. Hier ist zwar seit Ende des Kalten Krieges einiges passiert, aus der Sicht der nuklearen Habenichtse aber eben nicht genug. Den arabischen Staaten ist der israelische Atomwaffenbesitz ein Dorn im Auge. Dagegen fürchten andere Staaten, darunter auch die USA und ihre europäischen Partner und Freunde, dass immer mehr Staaten dem iranischen Vorbild nacheifern und unter dem Deckmantel eines friedlichen Atomprogramms militärische Absichten verfolgen.
Eine Welt mit immer mehr Atomwaffenstaaten wäre jedoch
ein sehr gefährlicher Ort. Krisen könnten ausser Kontrolle geraten und nuklear
eskalieren, vor allem im ohnehin mit vielen Konflikten behafteten Nahen und
Mittleren Osten. Zwar ist es plausibel anzunehmen, dass nukleare Abschreckung
im Kalten Krieg funktioniert hat. Daraus kann man aber keine Garantie auf ein
auch künftig geltendes nukleares Tabu in einer Welt mit immer mehr
Kernwaffenstaaten ableiten. Ausserdem könnten sich Terroristen Zugang zu
spaltbarem Material oder sogar Atombomben verschaffen, und diese Gefahr stiege,
je mehr Länder sich nuklear ausrüsteten. Schon heute richten sich bange Blicke
auf das pakistanische Kernwaffenarsenal.
Es entspricht den nationalen Interessen der USA, eine
solche Entwicklung zu verhindern. Immer mehr Atommächte schränkten den
(militärischen) Handlungsspielraum Washingtons ein, auch dann, wenn es um die
Wiederherstellung internationaler Ordnung gegen nuklear bewaffnete Aggressoren
ginge. Und hätten Terroristen erst einmal Zugang zu Atomwaffen – ein Szenario
das heute noch unwahrscheinlich ist – so wäre ihre Zielscheibe mit Sicherheit
eine amerikanische Grossstadt.
Also muss es Washington darum gehen, den NVV zu stärken und etwa die Überwachungsregeln hinsichtlich der friedlichen Nutzung des Atoms zu verbessern. Dies kann aber nur gelingen, wenn gleichzeitig erhebliche Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung erzielt werden. Diesen Zusammenhang erkannt zu haben, ist das Verdienst von Barack Obama. Ihn auf seinem Weg hinauf zum noch kaum in Sichtweite liegenden Gipfel der völligen atomaren Abrüstung zu unterstützen, entspricht auch europäischen Interessen. Denn wir wollen ja auch künftig - ungestört von nuklearem Fallout - die schönen Schweizer Berge besteigen.
Zum Autor
Oliver Thränert ist seit dem 1. Juni 2012 Leiter des Think Tank des Center for Security Studies der ETH Zürich. Der heute 53-Jährige wuchs in Braunschweig auf und studierte an der dortigen TU Geschichte, evangelische Theologie, Politikwissenschaft, Psychologie und Pädagogik. Er promovierte 1986 in Politikwissenschaft und Neuerer Geschichte. Danach arbeitete er bei verschiedenen Instituten und Think Tanks, die vergangenen elf Jahre an der Stiftung Wissenschaft und Politik - Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit. Mit dem Umzug nach Zürich verkaufte Thränert sein Motorrad –, was dem leidenschaftlichen Motorradfahrer die Tränen in die Augen trieb. Nun wird er sich in seiner Freizeit vermehrt die Wanderschuhe schnüren, um die zahlreichen Wanderwege der Schweiz zu erkunden.
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