Veröffentlicht: 08.10.12
Science

Alpenpflanzen in wärmeres Klima katapultiert

Umweltforscher der ETH gehen ungewohnte Wege: Statt darauf zu warten, dass das Klima der Alpen wärmer wird und Pflanzen hochwandern, holen sie Alpenpflanzen von den Bergen runter. Und transferieren sie damit mit einem Schlag in ihr zukünftiges Klima.

Peter Rüegg
Dieser Alpen-Wegerich (Plantago atrata) wurde von 2000 m auf 1400 m verpflanzt. Die Forscher wollen herausfinden, wie er sich in wärmerem Klima und unter neuen Konkurrenten verhält. (Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich)
Dieser Alpen-Wegerich (Plantago atrata) wurde von 2000 m auf 1400 m verpflanzt. Die Forscher wollen herausfinden, wie er sich in wärmerem Klima und unter neuen Konkurrenten verhält. (Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich) (Grossbild)

Der Nebel schleicht um den langgezogenen Gipfelgrat des Haldensteiner Calanda, die Sonne drückt nur gelegentlich durch. In den Bergen ist es Herbst geworden. Die Vegetation hat sich bräunlich verfärbt, nur noch wenige Pflanzen blühen, darunter der lilafarbene Feldenzian und der letzte Wundklee der Saison.

Jake Alexander liegt auf dem Boden. Sticht mit einem Küchenmesser in die Erde, schneidet einen kleinen Erdballen mit dem Feldenzian aus. Er zupft die Reste anderer Pflanzen weg, die er nicht braucht, und legt dann das Pflänzchen in eine grüne Saatschale. Immer wieder zählt er die Setzlinge durch: 120 müssen es am Ende sein, 30 sind es jetzt.

Transplantation in tiefere Gefilde

Die «Gartenarbeit» auf 2000 Meter über Meer hat einen Zweck: Die ETH-Forscher Jake Alexander, Jeff Diez sowie Professor Jonathan Levine wollen die Pflanzen in tiefere Gefilde verpflanzen, um besser zu verstehen, wie sich alpine Pflanzen in einem wärmeren Klima verhalten. Der Versuch soll zeigen, wie sich verschiedene Arten auf höhere Durchschnittstemperaturen und neue Konkurrenz - die Pflanzengesellschaft des Rasenziegels - reagieren.

Für ihren Versuch haben die Forschenden den Churer Hausberg ausgewählt. Sein breiter ostseitig ausgerichteter Bergrücken reicht von 500 Meter bis auf über 2800 Meter. Damit kommen an diesem Berg fast sämtliche Vegetationsstufen der Schweiz vor, von der tiefsten Tallage, wo Reben wachsen, bis hin zum kargen hochalpinen Rasen, wo sich die geschlossene Vegetation in einzelne Flecken aufzulösen beginnt. Ideale Voraussetzungen für dieses Transplantationsexperiment.

Klimawandel wirkt auf Konkurrenzverhältnisse

«Wir wissen, dass der Klimawandel Pflanzen durch eine Veränderung ihrer Physiologie direkt betreffen kann», sagt Jake Alexander. Indirekt wirke der Klimawandel auf eine Pflanze dadurch, dass sich die Konkurrenzverhältnisse an ihrem angestammten Standort verändern. Dadurch verändern sich auch die zahlreichen Wechselwirkungen zwischen Pflanzenarten. «Die Bedeutung dieser indirekten Effekte des Klimawandels sind eine der grossen Fragen der Klimaforschung», so der Umweltwissenschaftler weiter.

Um Antworten auf diese Frage zu finden, verpflanzen die Forscher fünf ausgewählte Arten der alpinen Stufe - Feldenzian, Skabiose, Wundklee, Berg-Wegerich und Frühlings-Anemone – in wärmere Klimata und in verschiedene Pflanzengesellschaften.

In einer spektakulären Aktion liessen sie deshalb Ende August 2012 mit dem Helikopter Erde und zehn Rasenziegel mit Hochgebirgsvegetation vom Gipfelgrat des Calandas auf 2600 Metern Höhe zum Cafäraboden auf 2000 Meter hinab transportieren, wo sie diese in die Versuchsflächen einbetteten. Von jeder der fünf Fokusarten pflanzten sie Exemplare in Rasenziegel vom Calandagrat, aber auch in solche vom Cafäraboden sowie in vegetationslose Erde. Eine identisch aufgebaute Versuchsfläche legten die Forschenden 600 Höhenmeter auf dem Nesselboden auf 1400 Metern an. Dorthin verpflanzten sie zehn Rasenziegel vom Cafäraboden sowie je 120 Individuen der fünf Arten.

Auf einen Schlag drei Grad wärmer

«Die jeweils 600 Meter Höhenunterschied bedeuten rund drei Grad Celsius höhere Durchschnittstemperaturen», betont Jeff Diez. Die alpinen Pflanzen wurden also über Nacht in ein Klima katapultiert, das gewisse Klimamodelle für die folgenden Jahrzehnte voraussagen. Die alpinen Pflanzen werden zudem Pflanzengesellschaften ausgesetzt, mit denen sie noch nie zu tun hatten.

«Dies kann ein möglicher Ausgang des Klimawandels sein: Alpenpflanzen, die sich in wärmeren Klima wiederfinden, zusammen mit Konkurrenz, die sich in höhere Lagen verbreitet hat», sagt Jonathan Levine, Professor für Pflanzenökologie der ETH Zürich.

Wie schnell die verpflanzten Alpenblumen eine Reaktion zeigen, können die Wissenschaftler nicht voraussagen. Projektleiter Alexander schätzt, dass die alpinen Pflanzen mit dem wärmeren Klima mehr oder weniger gut zurechtkommen, nicht aber mit der neuen Konkurrenz. So dürften die von 2000 Meter auf 1400 Meter transplantierten Pflanzen in den kahlen Erd-Plots gut gedeihen, während diejenigen in Rasenziegeln mit der Grasland-Konkurrenz von 1400 Metern wohl nur schwerlich durchkommen werden. Dies gelte aber möglicherweise nicht für jede Art. So vermutet der Forscher, dass die Skabiose, die bereits heute auch auf der montanen Stufe wächst, weniger Schwierigkeiten haben könnte als die Frühlingsanemone. «Diese Art könnte grosse Schwierigkeiten mit dem warmen Klima und der Konkurrenz bekommen», sagt er.

Kälteangepasste Arten auf dem Rückzug

Mit den gesammelten Daten der fünf Fokusarten möchten die Forscher möglichst generelle Aussagen darüber machen können, wie sich die Vegetation und die Flora in Zukunft unter Einfluss des Klimawandels verändern werden. «Damit können wir präziser modellieren, wie sich die Pflanzenwelt wandeln wird», sagt der Umweltforscher.

Und Anzeichen dafür, dass sich auch in den Berggebieten viel ändern wird, hat die Forschung. Wärmeliebende Pflanzen haben sich in den Gebirgen Europas in den Jahren 2000 bis 2009 weiter in grössere Höhen ausgebreitet, während sich kälteangepasste in der Zeit mehr und mehr zurückgezogen haben. Das haben die Forscher in 16 von 17 untersuchten Bergregionen Europas feststellen können.

Eine solche feine Auflösung, wie sie die ETH-Forscher nun anstreben, hat das Forschergremium allerdings nicht erreicht. Sie schreiben in einer Arbeit, die im Januar 2012 in Nature Climate Change veröffentlicht wurde, dass dies am einzelnen Berg noch nicht augenfällig sei, wohl aber auf Kontinenten bezogen schon. Die Studie der Forschungsgruppe von Jonathan Levine wird also viel detaillierter Auskunft geben darüber, welche treibenden Kräfte und Mechanismen dahinter stehen, wie die verschiedenen Arten auf den Klimawandel reagieren werden – in den Schweizer Alpen wie in anderen Regionen der Welt.

Literaturhinweis

Gottfried et al. Continent-wide response of mountain vegetation to climate change. Nature Climate Change, published online 10th Jan 2012. DOI 10.1038/NCLIMATE1329

 
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