Veröffentlicht: 27.09.12
Science

«Der Mensch neigt dazu, extreme Ereignisse überzubewerten»

Die Meereisfläche der Arktis war noch nie so klein wie jetzt. Ist dies ein zufälliger Negativrekord einer sich ständig verändernden Polarregion? Oder ist es ein Hinweis auf einen sich beschleunigenden Klimawandel? Darüber und über die Zukunftsaussichten der Arktis sprach ETH Life mit Reto Knutti, Professor am Institut für Atmosphäre und Klima.

Interview: Fabio Bergamin
Der ETH-Klimaforscher Reto Knutti. (Bild: ETH Zürich)
Der ETH-Klimaforscher Reto Knutti. (Bild: ETH Zürich) (Grossbild)

Die Meereisfläche in der Arktis ist in diesem Sommer stark geschmolzen. Seit uns Satellitenbilder zur Verfügung stehen war die Fläche noch nie so klein wie im Moment.
Ja, wir haben einen aussergewöhnlichen Sommer hinter uns, und die Eisfläche hat einen neuen Tiefststand erreicht. Das Eis der Arktis schmilzt jeweils im Sommer, im Winter nimmt die Fläche wieder zu, wobei die Unterschiede von Jahr zu Jahr beträchtlich sind. Der bisherige Tiefststand war im September 2007. Jetzt ist die Fläche nochmals deutlich kleiner.

Dies kann den Eindruck erwecken, in der Arktis erwärme sich das Klima derzeit schneller als bisher. Stimmt dieser Eindruck?
Tatsächlich hat die Eisfläche in den letzten Jahren im Vergleich mit dem längerfristigen Trend ziemlich schnell abgenommen. Man kann aber im Moment nicht sagen, ob wir zufälligerweise eine Serie wärmerer Jahre mit weniger Eis erleben oder ob das Klima eine Schwelle überschritten hat und wir auch in den kommenden Jahren mit einem viel schnelleren Abschmelzen rechnen müssen.

Genau das verkünden einige Medien und Blogs. Sie schreiben, ein «Kipppunkt» sei überschritten. Wegen positiver Rückkoppelungseffekte würde sich das Abschmelzen des Eises in der Arktis nun verstärken. Ist das tatsächlich der Fall?
Wissenschaftler sind sich in diesem Punkt nicht einig. Es gibt namhafte Experten, die sagen, das Klima in der Arktis verhalte sich heute anders als noch vor Jahrzehnten. Sie beziehen sich vor allem auf die Tatsache, dass die Eisfläche der Arktis heute mehrheitlich aus relativ dünnem Eis besteht, das im vergangenen Winter aufgebaut wurde. Früher gab es vermehrt festeres mehrjähriges Eis. Es sind vor allem Forscher, die in der Arktis Beobachtungen und Messungen machen, die diese Ansicht vertreten. Die meisten Wissenschaftler, die mit Klimamodellen arbeiten – dazu gehöre ich – sind jedoch anderer Meinung. Denn die Modelle zeigen keine eindeutige Verstärkung des Trends.

Es gibt Stimmen, die sagen, in fünf Jahren sei der Nordpol im Sommer eisfrei. Würden Sie diese als alarmistisch bezeichnen?
Ich bin zumindest vorsichtig. Der Mensch hat die Tendenz, extreme Ereignisse überzubewerten – nicht nur wenn es um das Klima geht. Alles, was normal ist, blendet er aus. In den letzten Jahren gab es auch Sommer, in denen die nördliche Meereisfläche nicht so stark zurückging. Auch unsere Modelle sagen voraus, dass die Arktis im Sommer früher oder später eisfrei sein wird. Wir stellen nicht in Abrede, dass es einen starken Trend dazu gibt. Nach unseren Modellen ist es aber frühestens in 30, vielleicht auch erst in 50 Jahren soweit, nicht schon in 5 Jahren.

Ob in 5 oder 50 Jahren – welche Auswirkungen wird eine eisfreie Arktis nach sich ziehen?
Der Wasserdampf und die Wolkenbedeckung in der Arktis werden sich ändern. Und weil Wettersysteme weiträumig gekoppelt sind, wird das auch Auswirkungen haben auf das Klima und die Ökosysteme der angrenzenden Landgebiete in Alaska und Sibirien. Welche konkreten Auswirkungen dies sein werden, weiss man zurzeit nicht genau. Zudem werden neue Schifffahrtsrouten durch das Nordpolarmeer den Welthandel verändern. Ausserdem wird die Frage, wem die Arktis und ihre Rohstoffe gehören, immer brennender. Es gibt dort Erdöl, Erdgas und Mineralien, die bisher nicht genutzt werden konnten. Doch statt über den Rückgang des Meereises und den Schutz der Arktis zu diskutieren, unterhält man sich heute vor allem über die Nutzung dieser neuen Rohstoffquellen. Dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn der Gebrauch der zusätzlichen fossilen Brennstoffe wird den Klimawandel noch weiter anheizen.