Veröffentlicht: 10.07.12
Science

Profiteure des Klimawandels in der Arktis

Der Klimawandel hat die Arktis für die Förderung fossiler Ressourcen zugänglicher gemacht. Zugleich öffnet er Schifffahrtswege, die bislang meist unter Eis steckten. Der grösste Gewinner der neuen Realitäten in der Arktis ist Russland, wie eine Analyse des «Center for Security Studies» (CSS) der ETH Zürich nun zeigt.

Samuel Schlaefli
Tiefster Winter auf dem Kuparuk-Ölfeld an der Prudoe Bay im Norden Alaskas: Der Run auf die Bodenschätze der Arktis hat längst begonnen. (Bild: jacQuie.k / Flickr.com)
Tiefster Winter auf dem Kuparuk-Ölfeld an der Prudoe Bay im Norden Alaskas: Der Run auf die Bodenschätze der Arktis hat längst begonnen. (Bild: jacQuie.k / Flickr.com) (Grossbild)

Vier Millionen Menschen leben in der Arktis auf einem Gebiet von 21 Millionen Quadratkilometern; das ist rund 500 Mal die Fläche der Schweiz. Aufgrund ihrer Abgeschiedenheit und der harschen klimatischen Bedingungen war die Gegend wirtschaftlich und politisch lange Zeit ein blinder Fleck auf dem Erdball, höchstens bekannt für seine Eisbären und die berüchtigten sowjetischen Strafkolonien.

Das hat sich jedoch in den vergangenen Jahren drastisch geändert. Grund dafür ist der Klimawandel: 2004 wurde im «Arctic Climate Impact Assessment» des Arktischen Rates erstmals ein dramatisches Abschmelzen des Arktiseises festgestellt. Der Trend setzt sich bis heute fort: Forscher massen im September 2011 den zweitniedrigsten Stand der Eisflächen seit 1979. Klimaschützer und Wissenschaftler warnen: Weniger Eis führt zu verminderter Sonnenreflexion, was das Klima zusätzlich aufheizt. Die Schmelze von Landeis wiederum beschleunigt den Anstieg des Meeresspiegels. Dieser verheerende Kreislauf weckt aber nicht nur Ängste, sondern auch Hoffnungen: Der geologische Dienst der USA schätzt, dass 13 Prozent des konventionell förderbaren Erdöls und 30 Prozent des Erdgases in der Arktis liegen, davon 84 Prozent im Meer, also «Offshore». Mit der sich beschleunigenden Eisschmelze der vergangenen Jahre werden grosse Öl- und Gasfelder erstmals zugänglich. Gleichzeitig steigt die Bereitschaft mehrerer Arktis-Anrainerstaaten, neue fossile Ressourcen, teils auch unter schwierigen Bedingungen zu fördern.

Öl- und Gasförderung im Visier

70 Prozent der arktischen Erdgasvorkommen werden auf russischem Gebiet vermutet. Kein Wunder also ist das Land in der Arktis derzeit besonders aktiv: Letztes Jahr kündete Rosneft, das grösste staatliche Erdölunternehmen, einen Deal mit ExxonMobil für die Erdöl- und Gasförderung in der Arktis an. Investitionen in Milliardenhöhe sollen in den nächsten Jahren in diese Projekte fliessen. «Russland gehört zu den grossen Gewinnern der neuen Situation in der Arktis», ist Jonas Grätz überzeugt. Grätz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am «Center for Security Studies» (CSS) der ETH Zürich und hat soeben eine Analyse der Konfliktpotenziale in der Region publiziert.

Russland sei für ein weiteres Wirtschaftswachstum auf neue fossile Energieressourcen angewiesen, erklärt Grätz. Die Förderung in der Arktis ist zwar wegen Wetterextremen und der Eisdrift nach wie vor riskant und kostspielig. Doch während andere Arktis-Anrainerstaaten Alternativen in gemässigten Breiten haben – Kanada fördert in grossem Stil Ölsande im Inland und die USA Schiefergase – fehlen diese in Russland weitgehend.

Kürzere Handelswege

Das neu erwachte Interesse Russlands an der Arktis führt Grätz aber noch auf eine zweite, vielversprechende Aussicht zurück. Die zunehmende Eisschmelze öffnet Handelswege, die bislang wegen des Packeises nur kurzzeitig oder mit Eisbrechern befahrbar waren. Darunter vor allem die Nordost-Passage, die den Handelsweg von Europa nach Asien um rund ein Drittel verkürzt. Welche Möglichkeiten das in Zukunft eröffnet, demonstrierte im September 2011 der 280 Meter lange russische Supertanker «Wladimir Tichonow». Beladen mit 120 Tonnen Gaskondensat, fuhr er seinen Zielhafen in Thailand direkt durch die Beringstrasse an, anstelle wie herkömmlich über den Suezkanal.

Grätz glaubt zwar nicht, dass die Nordost-Passage kurzfristig eine Alternative zu den etablierten «Autobahnen» der Schifffahrtsindustrie werden könnte. Dafür seien die Versicherungen für die Frachter noch zu teuer und es fehle die Infrastruktur für Zwischenstopps und den Verlad. Zudem führt die Bewilligungspflicht für Schifffahrten vor der russischen Küste zu Verzögerungen. Längerfristig jedoch könnten die traditionellen Meerengen, darunter namentlich die Strasse von Malakka vor Sumatra und der Suezkanal, im internationalen Handel an Bedeutung verlieren, schreibt Grätz in seiner Analyse.

Neue geopolitische Ansprüche

Mittlerweile konzentriert sich Russland in der Arktis vor allem darauf, die eigenen Handelskapazitäten und die militärische Präsenz auszubauen. Zwei Drittel der russischen Marine sind in der Region stationiert. Moskau investiert in seine Flotte, baut die Küsten-Infrastruktur aus und plant eine neue Ölraffinerie. Gleichzeitig werden neue Grenzschutzstationen errichtet und zusätzliche Truppen an die Küste bestellt. Grätz erkennt darin vor allem Anstrengungen, um Präsenz zu markieren und territoriale Ansprüche abzustecken. «Moskau sieht die Arktis nicht nur unter energiepolitischen, sondern auch unter geopolitischen Gesichtspunkten», sagt er.

Das gefällt nicht allen: Die USA, China und die EU haben mehrmals gefordert, dass es sich bei der Nordost-Passage vor der russischen Küste um internationale Wasserwege handelt, die von allen Staaten ohne Sonderbewilligung befahrbar sein müssen. Ganz anders Russland, das die Nordost-Passage als interne Gewässer betrachtet. Obwohl sich das Land historisch nie über diese Gegend definiert habe, seien die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Aktivitäten in der Arktis zu einem identitätsstiftenden Projekt der russischen Elite geworden, ist Grätz überzeugt. Symbolträchtig war die Aktion von 2007, als ein russisches Mini-U-Boot demonstrativ die Nationalflagge in den Meeresboden am Nordpol steckte.

Kleine Insel mit grosser Ausstrahlung

Doch nicht nur Russland kämpft für seine territorialen Ansprüche, auch Norwegen hat in der Region viel zu verlieren. «Das Land ist auf neues Gas und Öl für seinen Exportmarkt angewiesen, will es weiter wachsen», sagt Grätz. Man vergesse oft, das Norwegen der zweitgrösste Erdgas-Exporteur auf der Welt ist. Umstritten ist vor allem das norwegische Archipel Spitzbergen. Durch den sogenannten Spitzbergen-Vertrag von 1920 haben sämtliche 40 Unterzeichnerstaaten - darunter auch die Schweiz - das Anrecht, auf dem Archipel zu forschen und Ressourcen zu fördern.

Umstritten ist allerdings, ob sich dieses Recht auch auf den umliegenden Meeresboden erstreckt. Norwegen ist der Meinung, dass der Vertrag dort nicht gelte, und hat mehrmals versucht, andere Vertragspartner von dieser Position zu überzeugen – bislang jedoch ohne Erfolg. Grätz war während seiner Recherche selbst erstaunt, wie konsequent selbst NATO-Bündnispartner Norwegens Forderungen verwarfen. Obwohl diese an einem vertrauenswürdigen Erdgasförderer in der Region interessiert sein müssten, scheinen die eigenstaatlichen Interessen zu überwiegen.

Selbst Spitzbergen-Vertragsländer wie China, Indien und Südkorea haben in den vergangenen Jahren Forschungsstationen vor Ort eingerichtet, weil sie sich damit ein grösseres Mitspracherecht in der Arktis erhoffen. «Es ist ein wenig, als wolle jedes Land ein Fähnchen einstecken, solange die territorialen Ansprüche noch nicht vollumfänglich geklärt sind», sagt Grätz.