Veröffentlicht: 25.06.12
Science

Panik war nicht die Ursache für die Loveparade-Katastrophe

Der ETH-Soziophysiker Dirk Helbing untersuchte, warum die Loveparade in Duisburg vor zwei Jahren im Desaster endete. Das Fazit seiner Studie: Zahlreiche Faktoren trugen zur Katastrophe bei. Doch nach seiner Interpretation geht die Tragödie entgegen einer weit verbreiten Auffassung nicht auf eine Massenpanik zurück.

Fabio Bergamin
An Massenveranstaltungen stehen Menschen eng aneinander – bei zu grosser Dichte kann es zur Übertragung von Kräften und zu Dominoeffekten kommen (Symbolbild). (Bild: PDU / Fotolia)
An Massenveranstaltungen stehen Menschen eng aneinander – bei zu grosser Dichte kann es zur Übertragung von Kräften und zu Dominoeffekten kommen (Symbolbild). (Bild: PDU / Fotolia) (Grossbild)

Es hätte ein farbenfrohes und ausgelassenes Tanzfestival in Duisburg werden sollen, stattdessen endete der 24. Juli 2010 als schwarzer Tag. Vor den Eingängen zum Gelände der Loveparade – das nur für 250 000 Besucher ausgelegt war – und auf der Zugangsrampe kam es zum Gedränge. 21 Menschen sind darin umgekommen, über 500 wurden verletzt. Dirk Helbing, Professor für Soziologie an der ETH Zürich, hat untersucht, warum es zu dem Desaster kam. Er tat dies unabhängig von der Strafverfolgungsbehörde, deren Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind. Helbing kommt zum Schluss, dass die Tragödie entgegen einer weitverbreiteten Vermutung nicht auf eine Massenpanik zurückgeht.

In seiner Arbeit wertete Dirk Helbing frei zugängliches Datenmaterial aus, insbesondere auf der Plattform Youtube veröffentlichte Amateurvideos von Augenzeugen. Er ordnete diese Filme chronologisch und gewann so ein detailliertes Bild über den Ablauf der Ereignisse. «In den Filmen sieht man, dass die Ursache der Katastrophe keine ‹wildgewordene› Menschenmenge war», sagt Helbing. Das Verhalten der Besucher sei überwiegend kontrolliert und nicht von Panik getrieben gewesen. Die meisten Menschen hätten insgesamt sehr vernünftig gehandelt, als sie versuchten, Wege aus dem Gedränge zu finden. Aber gegen die ‹Naturgesetze› von Menschenmassen hatten sie keine Chance.

Bewegungen werden übertragen

Die Ursache für die Katastrophe ist laut Helbing schlicht in der zu grossen Dichte der Besucher im Eingangsbereich des Festivalgeländes zu suchen. Wenn immer mehr Menschen auf einen begrenzten Platz strömen, stehen sie zunehmend enger. Irgendwann wird es so eng, dass sich ihre Körper gegenseitig berühren. Alle Bewegungen – nicht nur absichtliches Drängeln, sondern auch unbeabsichtigte Bewegungen – werden dann durch die ganze Menschenmenge übertragen. Stolpert jemand, kann es zum Dominoeffekt kommen. Zu Boden fallende Menschen türmen sich dann übereinander und bekommen oft nicht mehr genügend Luft.

Der Wissenschaftler spricht bei dieser Übertragung von Bewegung von «Massenturbulenz» oder «Massenbeben». «In den Videos von der Loveparade sieht man, dass der ganze untere Bereich der Eingangsrampe zum Festivalgelände davon betroffen war», sagt er. Sicher hätten viele Besucher Angst um ihr Leben gehabt. Aber panisch rücksichtsloses Verhalten habe es nur von wenigen Leuten gegeben und erst in der allerletzten Phase der Ereignisse, als die Lage völlig verzweifelt und schon sichtbar gewesen sei, dass andere Menschen starben. «Es war die Hölle, aber Panik war nicht die Ursache der Katastrophe», so Helbing.

Massenpanik ist die Ausnahme

Damit liefert er eine andere Interpretation der Vorgänge als jene, die nach der Katastrophe oft in den Medien wiedergegeben wurde. «Die verbreitete Vorstellung solcher Katastrophen ist, dass die Menschenmenge aus irgendeinem Grund in Panik gerät und in eine Richtung drängt, wobei Leute zerquetscht werden», sagt Helbing. Die Sichtweise, dass Besucher unkontrolliert das Veranstaltungsgelände stürmten, käme auch teilweise in den offiziellen Berichten zum Ausdruck. Die Analyse der Ereignisse zeigt aber, dass es eher Bemühungen waren, einer bereits bedrohlichen Situation zu entkommen. Hätten die Besucher nicht Auswege aus dem Gedränge gesucht, wäre es wahrscheinlich schon früher zum Unglück gekommen.

Fälle von Massenpanik seien sehr selten, sagt Helbing. Nur wenige sind in der wissenschaftlichen Literatur bekannt, so etwa eine Stampede in Bagdad 2005. Damals geriet eine Pilgerprozession ausser Kontrolle, als sich das Gerücht verbreite, ein Selbstmordattentäter befände sich in der Menge. Die Ursache der meisten anderen Katastrophen mit Menschenmassen sind laut Helbing aber in der Physik zu suchen und nicht in der Psychologie.

Information ist wichtig

«Das Problem mit dem Begriff der Massenpanik ist, dass damit der Masse eine Mitschuld übertragen wird. Das Konzept erschwert, dass aus den Ereignissen die erforderlichen Lehren gezogen werden, welche die Sicherheit künftiger Massenveranstaltungen erhöhen würden», sagt Helbing. Zudem werde die Gefahr, panische Reaktionen auszulösen, oft als Grund angegeben, Menschenmengen nicht zu informieren. Dies sei jedoch der falsche Weg, so der Soziologe. Denn der Information und der Kommunikation kämen in einer angespannten Lage sogar Schlüsselrollen zu, die ein Eskalieren der Situation verhindern könnten.

Laut Helbings Studie trugen verschiedene Faktoren zur Katastrophe in Duisburg bei: Organisatorische Probleme führten dazu, dass es zum Gedränge kam. Die Massnahmen zur Bewältigung der entstandenen Situation funktionierten nicht. Kommunikationsprobleme trugen schliesslich dazu bei, dass nicht rechtzeitig evakuiert werden konnte.

Literaturhinweis

Helbing D, Mukerji P: Crowd Disasters as Systemic Failures: Analysis of the Love Parade Disaster, EPJ Data Science, 2012; 1: 7.