Veröffentlicht: 19.06.12
Science

Pendlerin zwischen verschiedenen Welten

Die Neurobiologin Claire Jacob hat gestern den Marie Heim-Vögtlin-Preis 2012 des Schweizerischen Nationalfonds erhalten. Der Preis zeichnet Wissenschaftlerinnen aus, denen der Spagat zwischen akademischer Karriere und Familienleben gelungen ist.

Alice Werner
ETH-Neurobiologin und Gewinnerin des Marie Heim-Vögtlin-Preises, Claire Jacob, setzt ihre wissenschaftliche Karriere an der Universität Freiburg fort. (Bild: C. Khammash / ETH Zürich)
ETH-Neurobiologin und Gewinnerin des Marie Heim-Vögtlin-Preises, Claire Jacob, setzt ihre wissenschaftliche Karriere an der Universität Freiburg fort. (Bild: C. Khammash / ETH Zürich) (Grossbild)

Marie Heim-Vögtlin, erste Schweizer Ärztin und zweifache Mutter, hat es Ende des 19. Jahrhunderts vorgemacht: Kinder und akademische Karriere unter einen Hut zu bringen. Die Pfarrerstochter, die sich aktiv für das Frauenstimmrecht einsetzte und das erste Schweizer Frauenspital mit angegliederter Schwesternschule gründete, unterstützt Wissenschaftlerinnen bis heute, weit über ihren Tod hinaus. Sie ist Vorbild und Namensgeberin für ein spezielles Frauenförderungsinstrument des Schweizerischen Nationalfonds (SNF): den Marie Heim-Vögtlin-Preis.

Traum von der Wissenschaft

Die diesjährige Preisträgerin ist die Neurobiologin Claire Jacob, die bis vor kurzem als Postdoc an der ETH Zürich forschte und nun an der Universität Fribourg eine SNF-Professur antritt. Fragt man sie, was ihr die Auszeichnung bedeutet, hört man aus ihrer Antwort Dank und Stolz heraus: «Sehr viel. Der Preis ist eine grossartige Würdigung meiner Arbeit als Wissenschaftlerin. Diese Anerkennung ist ein schönes Zeichen, auch an mein Umfeld, dass die investierte Zeit und Energie Früchte trägt und der Gemeinschaft nutzt.» Die Französin, Mutter einer bald fünfjährigen Tochter, blickt auf einen eher unkonventionellen beruflichen Werdegang zurück.

Doppelte Postdoc-Erfahrung

Den Traum von der Wissenschaftslaufbahn schon als Kind vor Augen, studierte Jacob zunächst Pharmazie. Nach einem Master in Biologie konzentrierte sich die angehende Naturwissenschaftlerin während ihres Doktorats an der Universität in Rennes, «angelegt zwischen Universität und Industrie», auf die Erforschung chronischer Entzündungen. Heute kommt ihr diese doppelte Erfahrung zugute. Die Preisträgerin habe bewiesen, so teilt der SNF in einer Pressemitteilung mit, dass sie komplexe Fragen aus einem neuen Blickwinkel betrachten könne. Ein Kompliment, das auch auf Jacobs wissenschaftlicher Neugier gründet: «Häufig spezialisiert man sich am Anfang einer akademischen Laufbahn auf ein Forschungsgebiet», sagt sie. «Doch nach meinem ersten Postdoc an der University of California in San Francisco, bewarb ich mich bewusst auf ein zweites Postdoktorat an der ETH Zürich, um mich auf dem Gebiet der Neurobiologie weiterzubilden.»

Bestärkt nach Schicksalsschlag

Ein schwerer Unfall kurz nach Ankunft in der Schweiz bestärkte Jacob, sich Fragen zur Regeneration des Nervensystems zu widmen. «Ich hatte Glück, dass ich nach meiner Rückenmarksverletzung fast alle motorischen Fähigkeiten wiedererlangt habe. Im Reha-Zentrum, angesichts der Menschen, die sich nach einer Verletzung der Wirbelsäule nicht wieder vollständig erholten, wurde mir erst richtig klar, wie wenig wir eigentlich auf diesem Gebiet wissen.» Nach fünf Monaten Genesungszeit stürzte sie sich wieder in die Arbeit. Im Rahmen ihrer Arbeit als Postdoc an der ETH Zürich, die sie mit der Unterstützung eines zweijährigen Marie Heim-Vögtlin-Beitrags nach der Geburt ihres Kindes ausführte, konnte sie aufzeigen, wie wichtig der Umbau von Chromatin - jenem Material, aus dem Chromosomen bestehen - auf die Entwicklung des peripheren Nervensystems ist. Dank dieser Erkenntnis könnte es in Zukunft gelingen, die neuronale Genesung nach einer Verletzung besser zu kontrollieren.

Starthilfe für eigenes Labor

«Tatsächlich gab es Leute», erzählt die Neurobiologin, «die mich kritisiert haben. Vor allem, als meine Tochter noch jünger war.» Wie könne bloss eine Mutter so viel arbeiten? Ob das gegenüber dem Kind nicht verantwortungslos sei? Claire Jacob ist jedoch überzeugt, dass sich diese Denkweise ändert. Über den Marie Heim-Vögtlin-Preis freut sie sich auch deswegen, weil er sie in ihrer Zweifachrolle unterstützt. Das Preisgeld in Höhe von 25 000 Franken wird sie als Starthilfe für den Aufbau ihres eigenen Labors in Fribourg gebrauchen können. «Ich werde mein Bestes geben, um dieses Geld in wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse zu verwandeln», verspricht sie. Der Preis wird ihr dabei helfen, nicht sofort Anträge für Drittmittel schreiben zu müssen.

Auch dafür ist sie dankbar. Denn Zeit ist wohl das knappste Gut, wenn Höchstleistung in der Wissenschaft und ein Familienleben zu vereinbaren sind. «Freizeit ist mittlerweile selten geworden, das gilt übrigens auch für meinen Lebensgefährten.» Überhaupt sei ein ausgeklügeltes Zeitmanagement überlebensnotwendig, so die gut organisierte Professorin: «Die Herausforderung ist, ein Gespür dafür zu bekommen, wie lange jede einzelne Aktivität des Tages dauert. So kann man effizient planen.» Zeiten, die zum Nichtstun verleiten, werden konsequent genutzt. Im Zug kann Claire Jacob, die in Basel wohnt und zurzeit zwischen Zürich und Fribourg pendelt, hervorragend arbeiten. «Nur der Zugbegleiter stört mich ab und zu beim Denken.»

Marie Heim-Vögtlin-Preis

Seit 1991 vergibt der Schweizerische Nationalfonds Marie Heim-Vögtlin-Beiträge an Forscherinnen, die ihre Forschungstätigkeit aufgrund ihrer familiären Situation unterbrechen oder reduzieren mussten. Die Beiträge sollen ihnen ermöglichen, ihre Forschung an einer schweizerischen Hochschule wieder aufzunehmen oder fortzusetzen und ihr wissenschaftliches Profil zu verbessern. Zusätzlich zu den Beiträgen richtet der SNF jährlich den Marie Heim-Vögtlin-Preis aus.

 
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