Veröffentlicht: 11.05.12
Science

Soziales Verhalten trotz Anonymität

Die Kommunikation von Menschen in Internet-Chatrooms folgt allgemein gültigen Mustern, die vorhersagbar sind. Dies zeigen ETH-Forscher unter der Leitung von Frank Schweitzer in einer neuen Studie.

Fabio Bergamin
Menschen drücken Emotionen im Internet ähnlich aus wie ausserhalb des Internets. Dies auch dann, wenn sie im Intenet unter einem Pseudonym (im Bild: Avatare) unterwegs sind. (Bild: istockphoto.com)
Menschen drücken Emotionen im Internet ähnlich aus wie ausserhalb des Internets. Dies auch dann, wenn sie im Intenet unter einem Pseudonym (im Bild: Avatare) unterwegs sind. (Bild: istockphoto.com) (Grossbild)

In der Anonymität fallen alle Hemmungen? Weit gefehlt! Die grosse Mehrheit der Teilnehmer von Internet-Chats verhält sich auch im Schutz eines Pseudonyms nach den gängigen sozialen Normen. Sie reagieren zumeist positiv, weniger häufig neutral und nur selten negativ. Damit ist die Diskussion in Chatrooms absolut vergleichbar mit anderen Formen der zwischenmenschlichen Kommunikation. Zu diesem Schluss kamen ETH-Forscher unter der Leitung von Frank Schweitzer, Professor für Systemgestaltung, in einer neuen Studie.

Die Wissenschaftler werten für ihre Arbeit die Diskussionsbeiträge – die sogenannten Posts – aus, die Nutzer während eines guten Monats in verschiedenen Chat-Kanälen veröffentlicht haben, die zu einem grossen Netzwerk gehören (EFNET). In diesen Chats äussern Nutzer ihre Meinung nicht unter ihrem richtigen Namen, sondern unter einem Pseudonym. Insgesamt flossen über 2,5 Millionen Posts von mehr als 20‘000 Nutzern in die Auswertung. Jeden einzelnen Post ordneten die Wissenschaftler einer emotionalen Grundstimmung zu: von negativ über neutral bis positiv. Sie benutzten dazu einen ausgeklügelten Computeralgorithmus, der unter anderem Schlüsselwörter auswertet sowie den Kontext, in dem sie stehen. Die Themen der untersuchten Chat-Kanäle waren vielfältig und reichten von Fussball und Computerproblemen bis hin zu politisch gefärbten Fragen wie dem Hanfanbau.

Nur wenige Stänkerer

In der Auswertung stellten Schweitzer und seine Kollegen fest, dass die Mehrheit der Nutzer in ihren Posts tendenziell positive Emotionen ausdrückt, und zwar unabhängig vom Thema des Kanals. «Das entspricht offensichtlich dem menschlichen Kommunikationsverhalten», sagt Schweitzer. «Es ist interessant, dass Menschen dieses Verhalten auch im Schutz eines Pseudonyms beibehalten.»

Die Mehrheit äussert sich in den Chats selbst dann positiv, wenn sie auf negative Äusserungen von anderen Diskussionsteilnehmern antwortet. Insgesamt konnten die Wissenschaftler anhand der Daten eine bemerkenswerte Beständigkeit in den Emotionen der Nutzer zeigen. Nur eine Minderheit der Nutzer ist emotional unstet. Gar noch kleiner ist die Gruppe der notorischen Stänkerer, deren Beiträge durchwegs negativ sind.

Gleiches Muster wie Briefwechsel von Einstein

Die Forscher untersuchten ausserdem, nach welcher Zeit die Nutzer auf Nachrichten im Chat antworten. Sie stellten dabei fest, dass diese Aktivität einem weitverbreiteten Kommunikationsmuster folgt, das mathematisch beschrieben werden kann. In den Online-Chats erfolgten 88 Prozent der Antworten innert weniger als einer Minute. Nur 0,2 Prozent der Antworten erfolgten später als eine halbe Stunde.

Die gleiche Gesetzmässigkeit ist grundsätzlich auch von der Beantwortung von E-Mails sowie vom Briefwechsel von Albert Einstein und jenem von Charles Darwin bekannt. Die absoluten Zeitabstände sind im Briefwechsel zwar viel länger als im Online-Chat, doch Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Zeitabstände der Antworten ist dieselbe.

Schweitzer und seine Kollegen können die Ergebnisse ihrer Auswertung auch in einem Modell reproduzieren, welches das Kommunikationsverhalten der Nutzer mathematisch beschreibt. Zwar ist es damit nicht möglich, das Verhalten jedes einzelnen Nutzers vorherzusagen, wohl aber das Verhalten der Nutzergemeinde als Ganzes. «Anders als oftmals vermutet, können wir also durch Modelle sehr gut beschreiben, wann und wie Nutzer im Internet auf emotionale Information reagieren und wie dadurch Kommunikation entsteht», sagt Schweitzer.

Programme mit emotionaler Intelligenz

Mit ihren Modellen wollen die Wissenschaftler unter anderem verstehen, wie neue Internet-Massenphänomene mit starker emotionaler Komponente zustande kommen. Beispiele dafür sind Kampagnen, wie sie in den letzten Jahren über Facebook geführt wurden, etwa die bekannten Kampagnen «Zürich soll Hauptstadt werden» oder «Kann dieses Minarett mehr Fans als die SVP haben?». Die Erkenntnisse der Forscher könnten dereinst in Computerprogramme einfliessen, die zum Beispiel selbstständig auf emotional aufgeladene Diskussionen im Internet reagieren und Spannungen abbauen, aber auch depressive Störungen von Nutzern erkennen oder in emotional aufgeladenen Konflikten vermitteln.

Literaturhinweis

Garas A, Garcia D, Skowron M, Schweitzer F: Emotional persistence in online chattingcommunities, 2012, Scientific Reports. DOI: 10.1038/srep00402.

Forschungsprojekt «Cyberemotions»

Die ETH-Studie zu Emotionen in Online-Chats ist Teil des europäischen Forschungsprojekts «Cyberemotions», in dem Computerwissenschaftler, Sozialpsychologen und Physiker von neun europäischen Hochschulen zusammenarbeiten. Ziel dieses Projekts ist es zu verstehen, wie Menschen im virtuellen Raum des Internets Emotionen kommunizieren und sich dabei gegenseitig beeinflussen. Neben der Auswertung des emotionalen Gehalts von elektronischen Nachrichten geht es vor allem um die Modellierung von Online-Nutzern.

 
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