Veröffentlicht: 29.03.12
Science

«Wir haben nicht bei Null angefangen»

Das IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) hat den ersten Sonderbericht zu Risiken von Extremereignissen und Katastrophen publiziert. ETH-Professorin Sonia Seneviratne war gemeinsam mit dem australischen Klimawissenschaftler Neville Nicholls Coordinating Lead Author für eines der neun Kapitel. Im Interview erzählt sie über ihre Arbeit und den Bericht.

Simone Ulmer
Sonia Seneviratne ist Assistenzprofessorin für Land-Klima Wechselwirkung am Institut für Atmosphäre und Klimawissenschaften der ETH Zürich. (Bild: Toini Lindroos/Ringier)
Sonia Seneviratne ist Assistenzprofessorin für Land-Klima Wechselwirkung am Institut für Atmosphäre und Klimawissenschaften der ETH Zürich. (Bild: Toini Lindroos/Ringier) (Grossbild)

Der IPCC-Sonderbericht bewertet und fasst wissenschaftliche Literatur über prognostizierte Veränderungen in Wetter- und Klimaextremen zusammen. Er zeigt die Konsequenzen solcher Veränderungen auf im Hinblick auf die Risikoreduktion von Katastrophen und Anpassungen an den Klimawandel. Das Kapitel, das Klimawissenschaftlerin Sonia Seneviratne betreut hat, liefert die rein physikalischen Grundlagen, anhand derer die ökologischen und gesellschaftlichen Folgen abgeschätzt werden können. Es ist der erste Bericht, der sich ausschliesslich mit Extremereignissen befasst.

Frau Seneviratne, Sie betreuten als Coordinating Lead Author ein Kapitel des Sonderberichtes, dessen Titel auf Deutsch sinngemäss lautet: «Sonderbericht für den Umgang mit dem Risiko von Extremereignissen und Katastrophen, um Klimawandel-Adaptionsmassnahmen voranzutreiben». So ein Kapitel zu schreiben, klingt nach einer herausfordernden Aufgabe.
Es hat zwar mit meiner Arbeit zu tun, aber es war schon eine beträchtliche zusätzliche Belastung. Während der Zeit, in der ich daran gearbeitet habe, kann es ein Nachteil gewesen sein, weil ich weniger Zeit für die eigene Forschung hatte. Aber langfristig war es sehr nützlich für mich als Forscherin, weil ich jetzt das ganze Feld viel besser überblicke und sehe, wo es Lücken gibt und wo prioritär noch mehr geforscht werden muss. Es ist natürlich auch eine Ehre, diese Aufgabe zu erhalten.

Über welchen Zeitraum hat sich das Projekt erstreckt?
Das Projekt begann 2009. Insgesamt haben wir zweieinhalb Jahre an dem Kapitel für den Sonderbericht gearbeitet.

Das von Ihnen betreute Kapitel lautet «Veränderungen in Klimaextremen und deren Auswirkung auf die natürliche physikalische Umwelt». Was versteht man darunter?
Koordiniert wurde der gesamte Sonderbericht von der IPCC-Arbeitsgruppe 1, welche die physikalischen Grundlagen liefert, und der Arbeitsgruppe 2, die sich mit den Auswirkungen, etwa auf die Ökosysteme und Gesellschaft und Anpassungsmassnahmen, beschäftigt. Nur unser Kapitel ist von der Arbeitsgruppe 1. Mit «natürliche physikalische Umwelt» wurde hervorgehoben, dass es in unserem Kapitel um die rein physikalischen Aspekte geht, aber nicht um deren Auswirkungen auf Ökosysteme und die Gesellschaft.

Welches sind die rein physikalischen Aspekte?
Wir haben drei Kategorien unterschieden. Einerseits die Beobachtungen und Prognosen in Wetter- und Klimaextremen bezüglich Temperatur, Niederschlag und Wind. Dazu kommen die Phänomene, die mit diesen Ereignissen zu tun haben. Zum Beispiel El Niño, tropische- und extratropische Wirbelstürme und weitere grossskaligen Variationen. Schliesslich Beobachtungen und Prognosen für die Auswirkungen auf die physikalische Umwelt, wie etwa Dürren, Überflutungen, Küstenüberschwemmungen, oder Auswirkungen im Gebirge.

Sie und die mitwirkenden Autoren haben dafür rund 1100 Publikationen über Extremereignisse zusammengetragen. Wie sind Sie vorgegangen?
Wir haben nicht bei Null angefangen. Es gab zuvor Berichte vom IPCC, die Aspekte dieses Themas behandelt hatten. Aber das ist der erste IPCC-Bericht, der sich ausschliesslich dem Thema Extremereignisse widmet. Zuvor war das Thema auf verschiedene Berichte verteilt und im vierten Assessment Report, dem AR4, auf verschiedene Kapitel. Mit diesem Material haben wir begonnen. Von den 1100 Publikationen wurden jedoch mehr als 70 Prozent nach dem AR4, also seit Mitte 2006, publiziert. Auch während wir den Bericht verfasst haben, kam ständig neue Literatur hinzu. Die neuen Publikationen haben wir mit der Begutachtung aus dem AR4 und derjenigen von einem technischen IPCC Artikel aus dem Jahr 2008 zum Thema Wasser verglichen. Wir prüften, was neu ist, oder was nicht mehr stimmt. Beispielsweise haben wir zu den Themen Trockenheit und tropische Wirbelstürme viel mehr neue Literatur, die auf umfangreicheren Analysen basiert.

Wie sind Sie bei der Beurteilung der Publikationen zu den jeweiligen Extremereignissen verfahren?
Das Vorgehen für die Beurteilung ist im Vergleich zum AR4 sehr systematisch geworden. Einerseits haben wir für jedes Extremereignis bestimmt, wie stark den Grundlagen vertraut werden kann, mit denen die Studien zu einem Extremereignis erarbeitet wurden. Wenn wir wenige Publikationen mit wenigen Datensätzen haben, oder wenn das Prozessverständnis noch wesentliche Lücken aufweist, ist das Vertrauen in die daraus abgeleiteten Aussagen gering. Wenn die Datengrundlage gut genug ist, um abschätzen zu können, wohin die Entwicklung vermutlich gehen wird, aber nicht ausreichend genug, um quantitativen Aussagen von Wahrscheinlichkeit zu treffen, dann ist das Vertrauen als mittelgross eingestuft. Dürren ist ein wichtiges Thema, aber das Vertrauen in die vorhandenen Datensätze ist nur mittelgross, da es unter anderem nur wenige relevante Beobachtungen dazu gibt. Schwierig ist auch abzuschätzen, wie gut die Modelle in Fällen sind, in denen es starke natürlich Schwankungen und wenige Ereignisse für die Analysen gibt, wie zum Beispiel beim El Niño. Quantitative Aussagen zur Wahrscheinlichkeit einer Änderung sind erst bei einer Datenlage möglich, deren wir eine hohe Vertrauenswürdigkeit zusprechen.

Können Sie ein Beispiel geben?
Wir können anhand der Daten sagen, dass das zukünftige Zunehmen von Hitzeextremen auf globaler Skala nicht nur wahrscheinlich ist, sondern mit einer Sicherheit von 99 bis 100 Prozent – «virtually certain» – auftreten wird.

Sie haben die Bewertungen und Prognosen sogar auf regionaler Ebene dargestellt.
Ja, für 26 Regionen haben wir die Prognosen und deren Bewertung für die Wahrscheinlichkeit der unterschiedlichen Extremereignisse dargestellt. Es ist das erste Mal, dass so detaillierte regionale Informationen über Extremereignisse zusammengestellt wurden. In einer weiteren Tabelle haben wir zudem die Beobachtungen und Prognosen global betrachtet dargestellt.

Wie sind sie mit gegenläufigen Studien umgegangen?
Wir haben Gegensätze geschildert und eine objektive Synthese dazu erarbeitet.

Was sind die grundlegenden Aussagen Ihres Kapitels?
Grundaussage ist, dass es schon Veränderungen in Extremen gibt, die wir beobachten können. Wie sicher man sich bezüglich der Änderungen ist, hängt stark von der Art des Extremereignisses und von der Region ab. Zu ihnen gibt es unterschiedlich umfassende Untersuchungen. Dass Hitzeextreme zunehmen werden, daran gibt es keinen Zweifel. Zum anderen werden Kälteextreme weniger häufig. Bei Starkniederschlägen sehen wir global ein Signal, lokal ist es jedoch schwieriger zu bestimmen.

Woran liegt das?
Ob wir ein Signal sehen oder nicht, müssen wir statistisch bestimmen. Wenn da das Rauschen zu gross ist, oder es eine sehr starke natürliche Variabilität gibt, dann ist es schwieriger, dieses Signal zu sehen. Letztendlich gibt es auch Extremereignisse, wofür die Datenlage noch begrenzt ist und für die wir noch nicht beurteilen können, ob sie von den zunehmenden Treibhausgaskonzentrationen beeinflusst werden.

Gab es Überraschungen?
Nein, mit wenigen Ausnahmen. Global betrachtet ist klar, dass es durch den Menschen verursachte Veränderungen für einige Extreme gibt, vor allem für Temperatur und Starkniederschläge, und dass wir für die Zukunft eine Verstärkung dieser Trends erwarten. Aber es gab auch Änderungen gegenüber der Begutachtung des AR4. Einerseits haben wir im neuen Sonderbericht detailliertere regionale Informationen, bis hin zu teilweise quantitativen Aussagen über die Grössenordnung der Änderungen bei gewissen Extremen. Diese Analysen zeigen grosse regionale Unterschiede in der Datengrundlage, in den beobachteten Trends, und in den projektierten Änderungen in Extremen. Andererseits hat die neueste Literatur auch grössere Unsicherheit bei bestimmten Extremen aufgedeckt, als das zur Zeit des AR4 erkennbar war. Das gilt vor allem für Dürren und tropische Wirbelstürme. Trotzdem können wir auch für diese Extreme Begutachtungen liefen. Zum Beispiel mit mittlerer Konfidenz, dass wichtige Regionen, darunter auch Zentraleuropa und der Mittelmeerraum, in Zukunft stärker von Trockenheit bedroht werden.

An dem Kapitel haben ausser den beiden Coordinating Lead Authors 12 Lead Authors und 28 Contributing Authors mitgearbeitet. Gab es da klare Aufgabenteilung?
Ich hatte sehr viel Glück, dass wir zwei Coordinating Lead Authors waren und Neville Nicholls bereits Erfahrungen mit solchen Berichten hatte. Die Hauptstruktur und Titel des Kapitels waren vom IPCC vorgegeben. Wir haben Vorschläge für die Lead Authors erhalten und auch selbst geschaut, mit welchen Wissenschaftlern wir die verschiedenen Teile des Kapitels gut abdecken können. Die Expertisen der Autoren sowie die geographische Verteilung der Autoren musste stimmen. Wir hatten Experten für spezifische Extreme oder für spezifische Methoden in der Klimaforschung.

Zur Qualitätssicherung wurden die Kapitel des Sonderberichts Gutachtern aus Wissenschaft und Regierungen vorgelegt. Wie gingen Sie dabei vor?
Der erste Entwurf wurde von Experten gelesen. Danach kam nochmals ein Review von Wissenschaftlern und politischen Entscheidungsträgern und ein weiteres Review zur Zusammenfassung des gesamten Berichts für Entscheidungsträger, der auch Passagen von uns enthält. Zu all dem haben wir insgesamt 5000 Kommentare erhalten, die nicht nur inhaltlich waren, sondern in denen auch auf Tippfehler hingewiesen wurde. Alle mussten von uns beantwortet werden. Das musste jeder für seinen Teil übernehmen. Aber am Schluss mussten Neville Nicholls und ich alles durchlesen und überprüfen, ob alles richtig beantwortet wurde. Das war viel Arbeit, aber gut für die Qualitätssicherung.

Ist die Qualitätssicherung neu beim IPCC, und Reaktion auf Fehler die im AR4 gefunden wurden?
Nein, die Qualitätsansprüche bestanden schon immer. Aber wir sind dadurch natürlich sensibilisiert und schauen noch genauer, damit keine Fehler entstehen.

Mehr zum Thema

Bericht des IPCC
Website von Sonia Seneviratne
Informationen zum Center of Climate System Modelling (C2SM)
Link zum ETH-Klimablog

 
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