Veröffentlicht: 29.02.12
Kolumne

Hirn lässt sich nicht wie Muskel trainieren

Elsbeth Stern
Elsbeth Stern, Professorin für Lern- und Lehrforschung an der ETH Zürich. (Bild: ETH Zürich)
Elsbeth Stern, Professorin für Lern- und Lehrforschung an der ETH Zürich. (Bild: ETH Zürich) (Grossbild)

* Der Mensch, der nicht mehr durch Wälder und Felder streifen muss, um Essbares zu finden, hat den Sport erfunden: Er joggt. Das Ziel dabei ist nicht die Ausbildung von Beinmuskulatur, sondern ein Transfereffekt: Indem der Mensch die Muskeln trainiert, bleiben Herz und Kreislauf stark.

Und so etwas hätte er nun auch gern für den Kopf. Im Supermarkt nicht zu vergessen, was wir einkaufen wollen; sich auf dem Empfang an den Namen des Bekannten zu erinnern, mit dem man sich gerade unterhält; noch nach Jahren zu wissen, wie Differentialrechnung funktioniert – um wie viel leichter wäre unser Leben, wenn unser Gedächtnis besser funktionieren würde!

Seit einiger Zeit verspricht hier eine Methode Abhilfe, die wie eine neue Trendsportart klingt: «Gehirnjogging». Im Internet wimmelt es von Übungsprogrammen, mit denen sich angeblich das logische Denken, die Merk- und Lernfähigkeit sowie Aufmerksamkeit und Konzentration gezielt verbessern lassen. Logeleien wie die Sudoku-Felder finden ein Millionenpublikum. Und tatsächlich: Wer über einen längeren Zeitraum diese Aufgaben übt, kann den Erfolg im eigenen Kopf erleben. Mit jedem Durchgang wird er schneller, macht weniger Fehler und steigert seine Punktzahl. Eine reizvolle Erfahrung. Beim Sudoku!

Aber liesse sich das Verfahren auch für das alltägliche Lernen nutzen, in der Schule oder im Studium? Was hat man nach dem Gehirnjogging tatsächlich gelernt? Wird man wirklich geistig fitter – und ist damit auf alle möglichen neuen Anforderungen besser vorbereitet? Oder wird man nur zum Experten für Denksportaufgaben? Alle wissenschaftlichen Bewertungen solcher Programme sprechen für Letzteres. Was beim Sport funktioniert, nämlich die allgemeine Kondition durch jede Art von Bewegung zu verbessern, funktioniert beim Lernen von geistigen Inhalten nicht. Wir können nicht abstrakt oder «allgemein» lernen, sondern nur abgestimmt auf konkrete Anforderungen und Inhaltsgebiete.

Man kann unser Gehirn mit einem Haus mit unzähligen Fenstern vergleichen: Wenn man eines putzt, sind die anderen immer noch schmutzig. Analog dazu trainiert man beim Gehirnjogging immer nur eine konkrete Aufgabe. Ein unspezifischer Transfereffekt, der das Lernen oder die Lernfähigkeit als Ganzes verbessert, konnte bisher in keiner Studie wissenschaftlich überzeugend nachgewiesen werden. Zwar wurden hin und wieder kleine Effekte gefunden, aber nicht bei gesunden Menschen ohne neuronale Probleme.

Als Rehabilitationsmassnahme nach Hirnverletzungen oder als Therapie für Kinder mit schweren Aufmerksamkeitsstörungen können Übungen am Computer zwar hilfreich sein. Aber auch hier gilt der medizinische Grundsatz: Eine Massnahme, die kranken Menschen hilft, ist für gesunde fast immer schädlich. Auch Antibiotika werden nicht zur Vorbeugung verschrieben. Anders als die unkontrollierte Einnahme von Medikamenten ist Gehirnjogging zwar nicht lebensbedrohlich – aber es kostet Zeit, die dann für sinnvolles Lernen fehlt.

Die Vorstellung, man könne sein Gehirn wie einen Muskel trainieren, ist also genauso absurd wie jene, unsere Texte würden besser werden, wenn wir uns einen leistungsfähigeren Computer zulegten. Wer bessere Texte schreiben will, muss an der Sprache feilen und an der Argumentationslogik arbeiten. Die schnellere Technik spielt dabei keine Rolle. Es stimmt natürlich: Wenn wir einen defekten Computer haben, kann das die Textfassung auch der besten Gedanken beeinträchtigen. Aufs Lernen übertragen heisst das: Wir brauchen dafür ein funktionierendes Gehirn, in dem Verbindungen zwischen Nervenzellen ständig hergestellt und aufgelöst oder modifiziert werden können. Aber diese physiologischen Funktionen können wir nicht direkt beeinflussen, und das ist auch gar nicht nötig.

Immer wieder hört man das Argument, dass sich durch Gehirnjogging in unserem Denkorgan Synapsen verbinden. Das ist richtig, aber dieser physiologische Effekt tritt bei jeder anderen Erfahrung auch auf – selbst bei fragwürdigen Aktivitäten wie etwa dem Üben von Einbruchstechniken. Das Synapsen-Argument suggeriert zudem, man müsse das Gehirn so auf das Lernen vorbereiten, wie man einen Acker durch Pflügen auf die Saat vorbereiten muss. Das menschliche Gehirn aber ist bereits auf das Lernen vorbereitet, das Feld ist gepflügt; jetzt geht es darum, die richtigen Pflänzchen und nicht Wildwuchs zu kultivieren. «Die richtigen Pflänzchen kultivieren» bedeutet vor allem, Wissen aufzubauen, mit dessen Hilfe man die Welt besser verstehen und in der Welt besser agieren kann. Dies setzt die aktive geistige Auseinandersetzung mit Ereignissen und Begriffen in einem bestimmten Inhaltsgebiet voraus. Selbst wenn beim Gehirnjogging Material aus schulrelevanten Fächern wie Mathematik oder Fremdsprachen verwendet wird, wird dabei bestenfalls der automatisierte Abruf der gelernten Wissenselemente gefördert. Sinnstiftendes Wissen entsteht hingegen nicht durch Wiederholung des Gleichen, sondern durch die Bearbeitung von Aufgaben in neuen Zusammenhängen. Wer die Hauptstädte Europas auswendig lernt, weiss noch nichts über Europa.

Deshalb ist es auch fast immer falsch, wenn schlechter Lernerfolg mit einer Fehlfunktion im Gehirn begründet wird: Meistens liegen schulische Misserfolge eher an schlechten Lerngelegenheiten – wenn etwa die Unterstützung fehlt oder Stoff zu abstrakt vermittelt wird. Lernschwierigkeiten mit dem Gehirn zu erklären, ist, als ob man einen Flugzeugabsturz auf die Schwerkraft zurückführte. Das ist nicht verkehrt, erklärt aber nicht, warum die anderen Flugzeuge oben bleiben.

Was aber macht den Trendsport Gehirnjogging trotzdem so beliebt? Warum beschäftigen sich Schüler, die sich sonst gerne vor den Hausaufgaben drücken, stundenlang mit den Aufgaben der «Jogging»-Programme? Es wurde bereits angedeutet: Es ist der Erfolg, der wahrgenommene Leistungszuwachs, der motiviert. Solange Kinder und Jugendliche in der Schule erleben müssen, dass sie keine Hilfestellung erhalten, wenn sie den Anschluss an den Stoff verloren haben, ist Gehirnjogging eine sehr willkommene Gelegenheit, sich im intellektuellen Bereich Erfolgs- und Kompetenzerleben zu verschaffen, das ansonsten fehlt.

Wenn wir dagegen wollen, dass Kinder und Jugendliche Dinge lernen, die in Zukunft Bestand haben, wie der kompetente Umgang mit Schrift und Sprache, die Nutzung mathematischer Werkzeuge, naturwissenschaftliches und technisches Grundverständnis, dann muss sich das Lernen in den Schulen ändern.

An dieser Stelle ist etwas mitzunehmen vom Erfolg des eigentlich nutzlosen Gehirnjoggings: die Art, wie diese kleinen Übungen einen Lernenden motivieren können. Übertragen auf das «echte» Lernen in der Schule heisst das: Der Stoff muss sinnvoll in kleinere Portionen aufgeteilt und es müssen Aufgaben gestellt werden, die Lernenden die Möglichkeit eröffnen, sich zu verbessern. Entscheidend ist aber, was und wie gelernt wird, damit etwas Sinnvolles verstanden und danach auch gekonnt wird. Unspezifisches Gehirnjogging, das nicht auf die Förderung inhaltlich definierter Kompetenzen abzielt, sollte hingegen nicht für mehr gehalten werden, als es ist: ein Zeitvertreib wie jeder andere.

* Dieser Text erschien in GEO, Heft 03/2012, und wurde ETH Life freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Zur Autorin

Dass Elsbeth Stern Forscherin respektive Professorin werden wollte, wusste sie schon als 15-jährige. Dieses Ziel hat sie denn auch erreicht: Die Deutsche ist seit 2006 Ordentliche Professorin für Lern- und Lehrforschung an der ETH Zürich. In Marburg und Hamburg studierte respektive doktorierte sie in Psychologie. Nach ihrer 1994 abgeschlossenen Habilitation arbeitete sie als Professorin an der Universität Leipzig und am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Die Lehr- und Lernforschung als seriöses Wissenschaftsgebiet zu etablieren, ist ihr seit langem ein zentrales Anliegen. Eine grundsätzliche Frage zum Thema Lernen ist für sie eine der faszinierendsten: Wie schafft es das menschliche Gehirn, das mindestens 40'000 Jahre alt ist, Dinge zu lernen, die erst seit wenigen Jahrzehnten zum Kulturgut des Menschen gehören, wie etwa das Bedienen eines Computers?