Veröffentlicht: 10.11.11
Campus

Prägend bei der Einigung Italiens und für die ETH

Der Einigung Italiens vor 150 Jahren und einem ihrer prägenden Köpfe war eine internationale Tagung in Zürich gewidmet. Francesco de Sanctis, Freiheitskämpfer, Geisteswissenschaftler und erster Bildungsminister des geeinten Italiens, hat auch nachhaltige Spuren an der ETH hinterlassen.

Martina Märki
Porträt Francesco de Sanctis aus seiner Zeit an der ETH Zürich. (Bild: Wikipedia)
Porträt Francesco de Sanctis aus seiner Zeit an der ETH Zürich. (Bild: Wikipedia) (Grossbild)

Auf einem Wand-Relief gegenüber dem rechten Eingang zum Auditorium Maximum im ETH Hauptgebäude kann man sein Profil bewundern: Francesco De Sanctis, geboren 1817 in der italienischen Provinz Avellino, gestorben 1883 in Neapel, italienischer Philologe und Literaturkritiker. De Sanctis ist nicht nur bis heute eine herausragende Figur der italienischen Geisteswissenschaften, er war auch ein aktiver Politiker, der das junge Italien entscheidend mitgestaltete. «Und er war eine der bedeutenden Persönlichkeiten, wenn es um die Institution der Geisteswissenschaften an der ETH Zürich geht», betont Francesca Broggi, Assistentin an der Gastprofessur für italienische Literatur- und Kulturwissenschaft der ETH Zürich. Die Gastprofessur für italienische Literatur- und Kulturwissenschaft, die seit 2007 jedes Jahr zwei namhafte Persönlichkeiten aus dem italienischen Kulturkreis an die ETH Zürich beruft, trägt seinen Namen.

Für umfassende Bildung

De Sanctis hatte von 1856 bis 1860 die erste Italienisch-Professur der ETH Zürich inne. Hier entwickelte er einige seiner grundlegenden Gedanken zur italienischen Nationalliteratur, die ihn bis heute berühmt gemacht haben. Die Berufung De Sanctis an die ETH bezeugt deutlich den liberalen Zeit- und Aufbruchsgeist aus den Gründerjahren der ETH. Denn der Ruf nach Zürich an die ETH erscheint aus heutiger Sicht alles andere als selbstverständlich, hatte De Sanctis doch neben seinem Ruf als bedeutender Literaturkritiker auch eine dramatische politische Karriere vorzuweisen. Nachdem De Sanctis 1848 von der italienischen Regierung zum Generalsekretär im Department des öffentlichen Unterrichts ernannt worden war, musste er zu Beginn der Reaktion in Italien flüchten, wurde 1850 verhaftet und verbrachte drei Jahre im Gefängnis in Neapel. In gewisser Weise war diese Zeit im Gefängnis die entscheidende Wende auf dem Weg an die ETH, denn in dieser Zeit widmete er sich ausführlich dem Studium der deutschen Sprache. Aus dem Gefängnis entlassen mit der Auflage, sich in die USA zu begeben, flüchtete er zunächst nach Malta, dann nach Turin, bevor er an die ETH berufen wurde.

Der Ingenieur als Bürger, Gelehrter, Künstler

Seine Antrittsvorlesung an der ETH Zürich ist geprägt von der Vorstellung, dass eine umfassende Bildung ein Menschenrecht ist. «De Sanctis Gedanken darüber, was den „ganzheitlichen“ Menschen, wie wir heute sagen würden, ausmacht, sind immer noch sehr aktuell und bedeutsam für die Rolle der Geisteswissenschaften an der ETH», sagt Broggi. So erinnert das Wand-Relief im ETH-Hauptgebäude daran, dass De Sanctis «in glanzvoller Weise den jungen Studenten die Schönheit der grossen poetischen Werke und der sich in ihr abspiegelnden reinen und würdevollen Gedankenwelten enthüllte und auf diese Weise einen ersten Entwurf seiner von Schweizern wie Nichtschweizern so bewunderten wie ruhmvollen Geschichte der italienischen Literatur vorlegte.»

De Sanctis vermittelte an der ETH auch eine Vision der Interdisziplinarität, die die Wünsche und Träume der jungen Generation mit aufnimmt. «Was sind Eure Träume? Was wünscht ihr Euch? Wollt Ihr Ingenieure werden?» – fragt De Sanctis seine Studenten in seiner Antrittsvorlesung und fügt hinzu: «Das ist in Ordnung. Das genügt, um Euch Euer materielles Leben zu sichern. Aber: was kommt dann? [...] Es lebt noch etwas anderes als der Ingenieur in Euch, der Bürger, der Gelehrte, der Künstler.» Der Literatur und ihrer Didaktik weist er dabei eine klare Funktion zu: «Die Literatur ist nicht von vornherein ein Kunstwerk, sondern sie hat ihren Sitz in Eurem Innern. Die Literatur ist ein Kult der Wissenschaft, der Enthusiasmus der Kunst, die Liebe zu all dem, was edel, gut und schön ist; und man lehrt sie Ihnen nicht um des Gewinns willen, den Sie gar nicht ermessen können, sondern um Ihren Verstand zu bilden und zu veredeln.»

Sein Engagement für die Bildung führte dazu, dass De Sanctis 1861 zum ersten Bildungsminister (Primo Ministro della Pubblica istruzione) des vereinigten Italiens berufen wurde. In dieser Funktion setzte er sich unter anderem für eine gebührenfreie Grundschulbildung für alle ein.

Einfluss bis in den italienischen Film

Der prägenden Rolle De Sanctis bei der Bildung Italiens war auch die Tagung in Zürich gewidmet, zu der die Gastprofessur für italienische Literatur- und Kulturwissenschaft der ETH in Zusammenarbeit mit dem Romanischen Seminar der Universität Zürich, mit der Società Dante Alighieri Zurigo und weiteren Partnern geladen hatte. Mit beteiligt waren – für Aussenstehende überraschend - auch das Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und das Filmpodium der Stadt Zürich. «Dies illustriert den interdisziplinären Charakter der De Sanctis-Gastprofessur», erklärt Broggi. Und den weitreichenden Einfluss, den De Sanctis Studien beispielsweise über Dante und die italienische Nationalliteratur auf das Kulturleben Italiens hatten. Der erste in Italien gedrehte Film nämlich, entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ist ein Film zu Dantes Inferno, dessen Szenenwahl von De Sanctis Schriften über Dante beeinflusst ist. Die Vorführung dieser Filmszenen, die erst im Jahr 2007 mühevoll restauriert werden konnten, im Filmpodium der Stadt Zürich bildete einen der Höhepunkte der Tagung.

Cattedra De Sanctis

Von 1856 bis 2002 existierte an der ETH Zürich die Professur für italienische Literatur, deren erster Inhaber Francesco De Sanctis war. Die Gastprofessur für italienische Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich (Cattedra De Sanctis) führt dieses Engagement für die Pflege der Landessprachen und ihrer Kultur an der ETH weiter. Seit 2007 werden Gastprofessorinnen und –professoren aus dem italienischen Sprach- und Kulturraum an die Cattedra De Sanctis berufen. Zu Gast sind prominente Geistesgrössen aus den Bereichen Literatur, Kulturwissenschaften, Geschichte, Kunstgeschichte oder Philosophie, so zum Beispiel im Frühjahr 2010 die bekannte italienische Schriftstellerin und Feministin Dacia Maraini. Aktueller Gast im Wintersemester 2011 ist Claudio Pogliano, Wissenschaftshistoriker an der Universität Pisa und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Instituts und Museums «Storia della Scienza» in Florenz.