Veröffentlicht: 19.10.11
Kolumne

Mythos mathematische Begabung

Elsbeth Stern
Elsbeth Stern ist Professorin für Lern- und Lehrforschung an der ETH Zürich. (Bild: ETH Zürich)
Elsbeth Stern ist Professorin für Lern- und Lehrforschung an der ETH Zürich. (Bild: ETH Zürich) (Grossbild)

Das Verhältnis zur Mathematik bleibt auch in modernen Wissens- und Informationsgesellschaften ambivalent. Dass wir der Mathematik als Sprache der Wissenschaften ganz wesentlich den technischen Fortschritt zu verdanken haben, ist allgemein akzeptiert. Auch können sich Menschen mit guten mathematischen Kompetenzen der Bewunderung sicher sein. Damit beginnt aber auch schon die Ambivalenz. Eigentlich sollten mathematische Kompetenzen so selbstverständlich sein wie schriftsprachliche Kompetenzen, da beides vom ersten bis zum letzten Tag in allgemeinbildenden Schulen mit einer grossen Stundendotation unterrichtet wird.

Zwar gibt es grosse Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schüler der Lese- und Schreibfähigkeit, aber nur wenige Schüler verlassen die Schule als völlige Analphabeten. Menschen, die über eine Matura verfügen, würden kaum von sich behaupten, nicht wirklich lesen und schreiben zu können. Zum mathematischen Analphabetismus hingegen bekennen sich auch Menschen mit akademischer Ausbildung erstaunlich leichtfertig, und diese Einschätzung entspricht durchaus der Realität, auch in der Schweiz. So zeigte die Evamarstudie II, an der 3800 Schweizer Schülerinnen und Schüler teilnahmen, die im Jahre 2007 ihre Matura ablegten, dass die Mathematikleistung bei fast einem Viertel der Teilnehmenden unter der Mindestanforderung lagen. Aber auch unter den Schülerinnen und Schülern, die die Hürde genommen haben, wird man nur wenige finden, die über tiefer gehende mathematische Kompetenzen verfügen. Den meisten gelingt es, Prozeduren bei bekannten Aufgabentypen anzuwenden, aber bei neuen Aufgaben zeigt sich schnell, auf welch dünnem Eis sie sich bewegen.

Ist Mathematik wirklich nur etwas für eine besonders begabte Minderheit? Eine solche Annahme ist – gerade auch unter Mathematiklehrern - weit verbreitet, und sie entspricht der menschlichen Tendenz, Dinge zu vereinfachen. Aus beobachteten Verhalten auf dauerhafte Eigenschaften einer Person zu schliessen, ohne dabei die vielfältigen Umwelteinflüsse, die das Verhalten beeinflussen können, zu betrachten, wird in der Psychologie als Correspondence Bias oder Attributionsfehler bezeichnet. Gerade aber mathematischen und anderen akademischen Kompetenzen wird man nur gerecht, wenn man sie vor dem Hintergrund der kulturellen Entwicklung sieht. Der Bauplan des menschlichen Gehirns ist, nach allem was wir wissen, vor 40'000 Jahren entstanden. Die ersten Spuren der Mathematik liegen weniger als 3000 Jahre zurück, und vieles von dem, was heute in allgemeinbildenden Schulen auf dem Lehrplan steht, entwickelte der Mensch erst vor wenigen Jahrhunderten. Im römischen Reich dürfte es weder Rechenschwäche noch herausragende mathematische Kompetenzen gegeben haben, weil das römische Zahlensystem zum Quantifizieren diskreter Mengen genutzt werden konnte, aber ansonsten kaum Möglichkeiten zur Entwicklung mathematischer Konzepte bot. Unter einer Primzahl konnte sich auch der intelligenteste Römer wohl kaum etwas vorstellen.

Aber auch wenn unser Gehirn nicht direkt auf den Erwerb von Mathematik und Schriftsprache vorbereitet wurde, bringt es offensichtlich recht gute Voraussetzungen für deren Erwerb mit. Nur so kann ich mir erklären, dass in wenigen Schuljahren normal begabte Kinder erlernen können, was über Jahrtausende entwickelt wurde. Schulisches Lernen bringt zusammen, was im Bauplan unseres Gehirns als voneinander unabhängige Kompetenzen vor 40'000 Jahren vorgesehen war. Damals wurden wir mit einem Zahlensinn ausgestattet, der es uns ermöglicht, Mengen unterschiedlicher Grösse voneinander zu unterscheiden. In sorgfältig angelegten Experimenten lässt sich zeigen, dass Säuglinge bereits im kleinen Zahlenbereich exakt quantifizieren und bei grösseren Mengen gut schätzen können. Diese beiden grundlegenden Kompetenzen lassen sich inzwischen auch als unabhängige Mechanismen im Gehirn identifizieren. Auch die Leichtigkeit, mit der fast alle Vorschulkinder spontan und ohne systematische Instruktion zählen lernen, spricht für vorbereitete, universell verfügbare Lernmechanismen.

Schwere Rechenstörungen, wie sie sich bei wenigen Kindern später in der Schule zeigen, haben ihren Ursprung sehr häufig im Gehirn. Die grossen Unterschiede in der schulischen Mathematikleistung hingegen lassen sich nicht so einfach erklären. Zwar bauen mathematische Kompetenzen auf unserem angeborenen Zahlensinn auf. Aber nur in Kombination mit unserer spezifischen menschlichen Intelligenz, die sich vor allem im schlussfolgernden Denken zeigt, können mathematische Kompetenzen entstehen, wenn die entsprechenden Lerngelegenheiten geboten werden. In der allgemeinen Intelligenz gibt es auch unter Gymnasiasten grosse und weitgehend genetisch determinierte Unterschiede. Aber eine überdurchschnittlich oder gar sehr hohe Intelligenz kann nur bei gutem, verständnisorientiertem Unterricht für die Entwicklung mathematischer Kompetenzen genutzt werden. Das kann auf allen Schulstufen optimiert werden. Zu häufig üben Schülerinnen und Schüler Routinen ein, die nie in Verständnis münden. Wer Kurvendiskussionen beherrscht, kann nicht zwangsläufig Graphen richtig interpretieren oder gar konstruieren.

Wie im Mathematikunterricht der Sekundarstufe 1 bei der Umformung algebraischer Terme kleine Veränderungen grosse Wirkungen entfalten können, zeigte kürzlich Esther Ziegler, eine Doktorandin in meiner Forschungsgruppe. Statt Addition und Multiplikation nacheinander einzuführen, wurden die Aufgaben parallel vorgegeben und ermöglichten damit den Lernenden systematische Vergleiche, die in tieferes Verständnis mündeten, wie die Leistung bei Transferaufgaben zeigten. Es zeigten sich weiterhin Leistungsunterschiede, aber auf einem höheren Niveau.

Fazit: Von einer mathematischen Begabung zu sprechen, ist aus wissenschaftlicher Sicht weder sinnvoll noch gerechtfertigt. Mathematische Kompetenzen entstehen, wenn Menschen die Gelegenheit erhalten, ihre Intelligenz in den Aufbau von mathematischem Wissen zu investieren, in dem Konzepte und Routinen gut integriert sind.

Zur Autorin

Dass Elsbeth Stern Forscherin respektive Professorin werden wollte, wusste sie schon als 15-jährige. Dieses Ziel hat sie denn auch erreicht: Die gebürtige Deutsche ist seit 2006 Ordentliche Professorin für Lern- und Lehrforschung an der ETH Zürich. Sie hat 1977 ihr Abitur in Schwalmstadt (Hessen) absolviert. In Marburg und Hamburg studierte respektive doktorierte sie in Psychologie. Nach ihrer 1994 abgeschlossenen Habilitation arbeitete sie als Professorin an der Universität Leipzig und am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Die Lehr- und Lernforschung als seriöses Wissenschaftsgebiet zu etablieren, ist ihr seit langem ein zentrales Anliegen. Eine grundsätzliche Frage zum Thema Lernen ist für sie eine der faszinierendsten: Wie schafft es das menschliche Gehirn, das mindestens 40'000 Jahre alt ist, Dinge zu lernen, die erst seit wenigen Jahrzehnten zum Kulturgut des Menschen gehören, wie etwa das Bedienen eines Computers?