Veröffentlicht: 23.09.11
Science

Neutrinos schneller als das Licht?

Neutrinos bewegen sich schneller fort als Licht. Das ist das Resultat von Experimenten, bei denen die Elementarteilchen vom Cern bei Genf nach Gran Sasso über eine Distanz von 730 Kilometer geschossen wurden. Noch geben sich die beteiligten Forscher zurückhaltend.

Peter Rüegg
Neutrino-Detektor im Untergrundlabor von Gran Sasso. (Bild: Opera)
Neutrino-Detektor im Untergrundlabor von Gran Sasso. (Bild: Opera) (Grossbild)

Über drei Jahre hinweg haben Physiker im Rahmen des Opera-Experiments Neutrinos vom Cern bei Genf ins 730 Kilometer entfernte Gran Sasso südlich von Rom geschossen und die Flugzeit der nahezu masselosen und ungeladenen Teilchen gemessen. Diese liegt gerade mal bei 2,4 Millisekunden. Zur grossen Überraschung der Wissenschaftler legten die Neutrinos die Strecke 60 Nanosekunden schneller zurück als Licht. In ihren Experimenten gelang es den Physikern, die Flugzeit von 15'000 Neutrinos zu messen, was eine relativ hohe statistische Sicherheit gibt.

Neutrinos entstehen mittels hochenergetischen Protonen, welche instabile Teilchen, die so genannten Mesonen, erzeugen, aus deren Zerfall die Neutrinos stammen. Sie wechselwirken nicht mit anderen Teilchen und können deshalb mühelos durch Materie hindurchtreten. Die Erdkruste ist für sie quasi durchsichtig. Die Teilchen sind ausserdem nahezu masselos und ungeladen und nur schwer auf eine gerichtete Bahn zu bringen. Der Neutrino-«Strahl» dehnt sich denn auch auf mehreren Kilometern Durchmesser aus. Entsprechend schwierig ist es, diese Elementarteilchen mit einem Opera-Detektor aufzuspüren. Von zehn Milliarden dieser Teilchen wechselwirkt nur eines mit dem Detektor.

Wird dieses Resultat bestätigt, könnte dies riesige Auswirkungen auf die Physik haben. Bislang galt die Lichtgeschwindigkeit als die oberste Geschwindigkeitsgrenze im Universum. Albert Einstein postulierte 1905, dass es nichts gebe, das sich schneller fortbewegt als Licht und dass diese Grösse eine Konstante sei. Keinem Experiment ist es seither gelungen, diese Grenze zu durchbrechen.

Wiederholung und Bestätigung benötigt

Die Opera-Wissenschaftler, zu denen auch Forscher des Instituts für Teilchenphysik der ETH Zürich gehören, bleiben aber vorerst zurückhaltend. Sie hätten zwar sämtliche möglichen Fehlerquellen versucht zu eruieren, hätten aber keine gefunden, weiss der ETH-Teilchenphysiker Andreas Badertscher. Eine Möglichkeit ist jedoch, dass ein unerkannter systematischer Fehler die Messungen verfälscht hat. Es braucht deshalb nun Wiederholungen des Experiments durch unabhängige Gruppen. Das Resultat gilt als nicht etabliert, so lange es nicht durch andere Experimente bestätigt werde, sagt Badertscher.

Obwohl Zeitmessungen im Nanosekundenbereich für Teilchenphysiker nichts Aussergewöhnliches sind, waren die für diese Messungen eingesetzten Uhren ein kritischer Faktor. Für die Zeitmessung verwendeten die Physiker Atomuhren, die von Spezialisten geeicht und im Cern und in Gran Sasso eingerichtet wurden. Die beiden Uhren mussten vor dem Experiment exakt synchronisiert werden. Start und Stopp, also das Ereignis am Teilchendetektor, müssen jedoch sehr genau festgehalten werden.

Exakt ausmessen mussten Spezialisten auch die Distanz zwischen der Neutrinoquelle am Cern und dem Detektor in Gran Sasso. Sie beträgt 730 Kilometer, der Fehler liegt bei 20 Zentimetern, was weniger als einer Nanosekunde Flugzeit entspricht.

Keine verfrühten Spekulationen

Was das Resultat für die Physik heisst, kann und will Andreas Badertscher derzeit nicht kommentieren, da dies nur Spekulationen wären. Wichtig sei, dass weitere unabhängige Experimente den Befund des Opera-Forschungskonsortiums bestätigen. Nur zwei Labors sind in der Lage, die Tests des Opera-Konsortiums zu wiederholen: das Fermilab bei Chicago und der J-PARC-Beschleuniger in Japan, der wegen des Tsunamis und des Erdbebens im März im Moment nicht in Betrieb ist.

Die Forscher des Opera-Experiments sind noch weit davon entfernt, an die tatsächliche Entdeckung überlichtschneller Teilchen zu glauben. Stattdessen setzen sie darauf, dass eine öffentliche Diskussion in Forscherkreisen eine Erklärung findet. Diese Diskussion beginnt heute Nachmittag um 16 Uhr am Cern, wo die Resultate vorgestellt werden. Interessierte können die Konferenz per Webcast mitverfolgen.