Veröffentlicht: 23.08.11
Campus

Lesehilfe für die Grossstadt

Was zeichnet einen urbanen Ort und seine Menschen aus? Diese Frage stellten sich die ETH-Dozentin für Architektur und Stadtplanung, Anne Mikoleit, und der Architekt Moritz Pürckhauer in ihrem Buch «Urban Code». In 100 Lektionen lernen die Leser, die Regeln des urbanen Lebens zu entziffern.

Rebecca Wyss
Der städtische Alltag, hier der Stadtteil SoHo in Manhattan, funktioniert nach ganz bestimmten Regeln. (Bild: Anne Mikoleit/Moritz Pürckhauer)
Der städtische Alltag, hier der Stadtteil SoHo in Manhattan, funktioniert nach ganz bestimmten Regeln. (Bild: Anne Mikoleit/Moritz Pürckhauer) (Grossbild)

Auf Hochglanz polierte Schaufenster, grell ausgeleuchtete Ladenflächen, teuer klingende Namen wie Prada und Co. und daneben die in die unscheinbaren Gassen verdrängten kleinen Buchhandlungen und Galerien. Was vor 30 Jahren noch von künstlerischer Kreativität und Pioniergeist beseelt war, ist heute immer mehr Shoppingmeile, Touristenmagnet und Heimstädte des Kapitaladels Manhattans – so der erste Blick auf den Stadtteil SoHo in Manhattan. Anne Mikoleit und Moritz Pürckhauer zeigen jedoch in ihrem Buch «Urban Code», dass mehr dahinter steckt.

«100 Lessons for Understanding the City», das versprechen die beiden Architekten auf dem Buchdeckel. Serviert bekommen die Leser 100 Abschnitte, die das Shoppen, Essen, «Taxi»-Rufen, U-Bahn-Besteigen und Gassi gehen mit dem Hund der Stadtmenschen reflektieren. Das erklärte Ziel der beiden Autoren ist es, die Logik der Stadt freizulegen – ihren urbanen Code. Das ist ihnen gelungen.

Zusammenspiel von Mensch und urbaner Umwelt

Die kurzen Essays basieren auf passiven Beobachtungen. Als Beobachter, die am Strassenrand stehen, beschreiben die Autoren die einzelnen Szenen. Dennoch gelingt es ihnen immer wieder, aus der deskriptiven Oberflächlichkeit auszubrechen. Sie blicken hinter die Szene und entschlüsseln deren Syntax – die versteckten Abhängigkeiten, unsichtbaren Kräfte und normativen Verhaltensweisen. Sie erklären, weshalb Menschen sich bewegen, sich versammeln, sich ansammeln und pausieren. Mehr noch: Sie schaffen es, aus dem Durcheinander des Stadtalltags Regeln des Zusammenlebens abzuleiten.

Nicht zuletzt deshalb ist dieses schmale Büchlein nicht einfach ein Werk für Stadtplaner und Architekten. Die beiden Autoren begeben sich auf neue Pfade. Pfade, die die Disziplinen Ökonomie, Soziologie, Psychologie, Cultural Studies und Stadtarchitektur miteinander verknüpfen, wenn auch nicht immer auf Anhieb sichtbar. So manche Beobachtung ist für sich betrachtet trivial. Etwa, dass die Fussgänger lieber auf der sonnigen Seite des Trottoirs gehen. Dass Touristen stillstehen, wenn sie sich ein Objekt ansehen. Oder dass sich der Mensch vor dem Dunkeln fürchtet. Sinn stiften die Beschreibungen erst, wenn man sie als Teil des Ganzen betrachtet. Jede Lektion, jede Beobachtung, jede Verhaltensweise der Stadtmenschen ist eine Ziffer des urbanen Codes von SoHo. Und dieser Code basiert auf der Verschmelzung der Disziplinen.

Die Feststellung, dass Fussgänger auf der sonnigen Seite der Strasse gehen, wird in einen Kontext eingebettet. So erfahren die Leser, dass sich Strassenverkäufer getreu ihrem Business-Instinkt genau deshalb ebenfalls dort platzieren. Daneben decken die Autoren aber auf, dass Strassenverkäufer als Puffer zwischen den Fussgängern und dem hektischen Verkehr fungieren. Oder dass sie durch die typischen Geräusche, Gerüche und Anblicke eine Atmosphäre der Sicherheit für die Menschen um sie herum schaffen. Hier wird die rein ökonomische Brille abgesetzt. Hier wird es interessant.

Nicht nur für Architekten lesenswert

Trotz der verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven ist das Werk keine knochentrockene Abhandlung über einen Stadtteil Manhattans. Der Unterricht in 100 Lektionen macht Spass – nicht nur Leuten, die mit den einzelnen Disziplinen vertraut sind. Jeder, der sich bislang gefragt hat, wieso sich manche Menschen in der Stadt in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Weise verhalten, erhält in diesem Buch Antworten. Hinzu kommt der feine Humor. Dass der urbane Code sogar von Hunden gespiegelt wird, ringt wohl so manchem ein Lächeln ab: «A dog in the country is not like a dog in the city. While the provincial dog defends his territory and serves as a replacement for an alarm system, the city dog obediently walks on a leash, and acts as best friend and life partner in anonymous New York City.»

Abgerundet wird der Inhalt durch die ästhetische Aufmachung. Das Auge geniesst mit: Jede Lektion ist mit einer kleinen symbolischen Zeichnung illustriert. Über das ganze Buch verteilt finden sich 30 Fotografien von Szenen auf den Strassen SoHos, die zum Verweilen einladen. Zusammen mit den Texten machen sie Lust darauf, für eine Weile in einer Grossstadt zu leben und zu beobachten. Denn eines steht fest: Bei «Urban Code» handelt es sich nicht um einen Laienblick auf einen Stadtteil. Es ist ein Blick eines geschulten Auges, das das Leserauge mitschult. In einer von Landflucht und zunehmender Urbanisierung geprägten Welt, in der es gilt, sich zurechtzufinden, ist die Kenntnis der urbanen Codes nützlicher denn je.

Über die Autoren:

Anne Mikoleit ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Professur für Architektur und Städtebau (Prof. Kees Christiaanse) und Entwurfsassistentin an der Professur für Architektur und Konstruktion (Prof. Adam Caruso) der ETH Zürich. Moritz Pürckhauer ist ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter der ETH und arbeitet als Architekt und Städtebauer in Zürich.
Anne Mikoleit und Moritz Pürckhauser, «Urban Code», gta Verlag, englisch, 111 Seiten.

ETH Life verlost drei Exemplare

ETH Life verlost drei Exemplare des Buchs «Urban Code». Um an der Verlosung teilzunehmen, reicht es, eine Mail mit dem Betreff «Urban Code» an redaktion@ethlife.ethz.ch zu senden. Einsendeschluss ist Freitag, der 2. September 2011. Die Gewinner werden per E-Mail informiert, über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt.
Die ersten 20 ETH Life-Leserinnen und – Leser, die das Buch in der Polybuchhandlung beziehen, erhalten zehn Prozent Rabatt.

 
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