Veröffentlicht: 22.06.11
Campus

«Mehr Hirnschmalz für erste Planungsphase»

Nachhaltiges Bauen muss den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks berücksichtigen. Dafür steht Holger Wallbaum in seinem neuen Buch ein. Der Professor für Nachhaltiges Bauen berät auch Bauprojekte, wie das entstehende Quartier Europaallee beim Zürcher Hauptbahnhof. Wallbaum und Andreas Steiger, der fürs Quartier Europaallee beim Bauherrn SBB verantwortlich ist, schildern, wie in der Praxis nachhaltig gebaut wird.

Samuel Schläfli
Holger Wallbaum (l), Professor für Nachhaltiges Bauen an der ETH Zürich und Andreas Steiger, Leiter SBB Immobilien Zürich City beim Gespräch über nachhaltiges Bauen in der Praxis (Bild: Peter Rüegg/ ETH Zürich)
Holger Wallbaum (l), Professor für Nachhaltiges Bauen an der ETH Zürich und Andreas Steiger, Leiter SBB Immobilien Zürich City beim Gespräch über nachhaltiges Bauen in der Praxis (Bild: Peter Rüegg/ ETH Zürich) (Grossbild)

Herr Steiger, Herr Wallbaum, alle sprechen heute von Nachhaltigkeit: Was heisst nachhaltiges Bauen für Sie konkret?
Andreas Steiger: Nachhaltiges Bauen bedingt die gemeinsame Suche aller Planer nach bestmöglichen Lösungen. Das ist wesentlich mehr, als einfach nur die Ergänzung von Teams durch einen Nachhaltigkeitsspezialisten. Leider gibt es bis heute nur wenige Architekten und Planer, die das wirklich leben. In Zukunft sollten Überlegungen dazu, was über eine lange Betrachtungszeit sinnvoll ist, in jeder Disziplin inhärent sein. Insofern ist der «Nachhaltigkeitsexperte» nur eine Übergangsaufgabe.

Holger Wallbaum: Genau, eigentlich muss sich meine Assistenzprofessur an der ETH überflüssig machen, dann haben wir das Ziel erreicht. Nachhaltigkeit kann man nicht einfach an jemanden auslagern. Wir brauchen nicht noch weitere Fachplaner, sonst wird das Stück Kuchen für den einzelnen am Bau Beteiligten immer kleiner. Die Architekten sind die Dirigenten, sie müssen alle Möglichkeiten des nachhaltigen Bauens kennen und die Einzelteile zum Klingen bringen. Wir müssen deshalb in die Disziplinen hineingehen und die Planer fit machen für diese neue Aufgabe.

Herr Steiger, Sie sind oft in Wettbewerbe involviert, die die SBB für neue Bauprojekte ausschreiben. Wie wichtig ist das Kriterium Nachhaltigkeit für die SBB heute schon?
Steiger: Bei uns muss ein Architekt eine Sensibilität fürs Thema mitbringen, wenn er gewinnen will. Wer sich nicht darum kümmert, der hat heute keine Chance mehr. Noch lange sind aber nicht alle Architekten soweit. Für das Baufeld H im Quartier Europaallee zum Beispiel, haben wir einen zweistufigen Wettbewerb mit Fokus Nachhaltigkeit lanciert. Wir erhielten 18 Beiträge, aber nur wenige erfüllten unsere Anforderungen punkto Nachhaltigkeit. Viele waren lediglich städtebaulich nachhaltig, nicht aber in anderen Belangen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass viele Architekten ihren Entwurf nach getaner Arbeit zwei Wochen vor Abgabe noch einem Nachhaltigkeitsexperten unterbreiten, der diesen noch ein wenig optimieren soll.

Wallbaum: Das sieht man den Projekten auch an. Die Komplexität der Bauaufgabe wird in solchen Fällen oft nicht wirklich erfasst. So entstehen keine intelligenten Lösungen. Wir müssen heute bereits in der ersten Planungsphase viel mehr Hirnschmalz einsetzen. Architekten müssen Projekte breiter erfassen und Ansätze finden, die unter anderem die Lebenszykluskosten, den Unterhalt und die Lichtplanung von Beginn an mitberücksichtigen.

Es gibt heute mehrere Labels, die nachhaltiges Bauen auszeichnen sollen. In der Schweiz ist das berühmteste sicher das Minergie-Label. Wie wichtig sind solche Etiketten?
Wallbaum: Diese Standards sind wichtig. Deshalb haben wir uns zum Beispiel auch dazu entschlossen, beim Baufeld G im Quartier Europaallee den Minergie-ECO-Standard einzufordern. Das ist auch aus Renditeüberlegungen interessant: Mit Minergie-Standards kann man heute bei Transaktionen im Stockwerkeigentum 3,5 Prozent mehr und bei Einfamilienhäusern sogar 7 Prozent mehr Rendite erzielen. Für den Betrieb sind die Energiepreise leider noch nicht da angelangt, wo sie sein sollten; der Return on Investment ist bei Wohnüberbauungen häufig erst nach rund 40 oder 50 Jahren erreicht. Dennoch ist der Markt bereit, mehr zu bezahlen, denn der Komfort in solchen Gebäuden ist wesentlich höher und man assoziiert damit Verantwortungsbewusstsein. Nachhaltige Bauten sind heute trendy.

Steiger: Im Bereich der institutionellen Investoren ist Minergie heute schon fast «state of the art»; es gehört einfach zum guten Ruf einer Unternehmung. Die Labels stellen Mindestanforderungen und ein gut isoliertes Haus ist in der Regel nun mal energieeffizienter als ein schlecht isoliertes. Minergie ist aber nur ein Aspekt von Nachhaltigkeit. Wenn man zum Beispiel so baut, dass eine Umnutzung zu einem späteren Zeitpunkt nicht möglich ist, dann bringt auch die Energieeffizienz nichts.

Gibt es dafür Beispiele?
Ja, die ehemalige neue Sihlpost zum Beispiel: Sie war einzig ausgelegt für ein Postbetriebsgebäude und musste nach nur 17 Jahren Betrieb abgebrochen werden, weil das Gebäude für keine anderen Nutzungen brauchbar war. Nachhaltig wäre eine Bauweise, die vielfältige Raumnutzungen zulässt. Das neue Gebäude erfüllt diese Bedingungen: Aus den Turnhallen der Pädagogischen Hochschule können später auch Auditorien gemacht werden oder die Unterrichtsräume können ohne Probleme auch als Büros genutzt werden.

Herr Wallbaum, einige Ihrer Kollegen am Departement Architektur haben im November 2010 die «Zero-Emissions Architecture» proklamiert, die voll auf die Reduzierung von CO2-Emissionen abzielt. Ist das nachhaltig?

Wallbaum: Ich wehre mich sehr dagegen, den alleinigen Fokus auf das Kohlendioxid gleichzusetzen mit Nachhaltigkeit, was in der Verallgemeinerung häufig geschieht. Genauso wenig wie Minergie, bedeutet auch «Zero-Emissions Architecture» nicht per se nachhaltiges Bauen. Das sind nur einzelne, aber auch wichtige, Komponenten einer Gesamtstrategie für ideale Objekt- und Standortlösungen.

Steiger: Die Verminderung von CO2 beim Bau ist sicher auch ein Ziel, aber alleine damit sind noch nicht alle Probleme gelöst. Den freieren Umgang mit Energie können wir uns erst leisten, wenn wir überall auf saubere Energien zurückgreifen können, die nicht aus Kohlekraftwerken oder Atomkraftwerken stammen.

Zu den Personen

Andreas Steiger leitet seit 2002 bei SBB Immobilien den Bereich Development Zürich City. In dieser Funktion ist er verantwortlich für kommerzielle Projektentwicklungen und die Durchführung grösserer Bauvorhaben in der Stadt Zürich. Steiger studierte Architektur an der ETH Zürich und war dort bis 1992 als Assistent tätig.

Holger Wallbaum ist Professor für Nachhaltiges Bauen am Institut für Bau- und Infrastrukturmanagement der ETH Zürich. Er ist zudem Mitglied des ETH-Kompetenzzentrums Energy Science Center (ESC). Wallbaum und seine Forschungsgruppe befassen sich mit konzeptionellen, technologischen und zugleich zukunftsfähigen Innovationen in der Bauwirtschaft.

Publikation: Nachhaltiges Bauen

Das neue Buch von Holger Wallbaum bietet über drei Zugänge einen Einstieg in die Thematik des nachhaltigen Bauens: Denkschule, Handwerkszeug und Beispiele. Wallbaum und zwei Mitautoren stellen der bestehenden Bau­praxis einen Ansatz gegenüber, der sich am gesamten Lebenszyklus der Bauwerke orientiert und ein Denken und Planen in Systemen und Szenarien voraussetzt. Beispiele Nachhaltigen Bauens veranschaulichen mögliche Lösungsansätze und zeigen auf, welche Ideen funktionieren und welche nicht. Ein Anhang mit einer umfassenden Übersicht zu Instrumenten für Nachhaltiges Bauen ergänzt die Publikation.
Holger Wallbaum, Susanne Kytzia, Samuel KellenbergerNachhaltig Bauen – Lebenszyklus, Systeme, Szenarien, Verantwortung 2011, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich, ISBN 978-3-7281-3415-8

ETH Life verlost drei Exemplare des Buches. Um an der Verlosung teilzunehmen, senden Sie eine E-Mail mit Betreff «Nachhaltiges Bauen» an redaktion@ethlife.ethz.ch. Einsendeschluss ist Freitag, 1. Juli 2011. Die Gewinner werden per E-Mail informiert, über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt.Die ersten 20 ETH Life-Leserinnen und -Leser, die das Buch in der Polybuchhandlung beziehen, erhalten 10 Prozent Rabatt.

 
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