Veröffentlicht: 31.05.11
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Taugt die Wissenschaft als Modell für Demokratie?

Das Latsis-Symposium, organisiert vom Zentrum Geschichte des Wissens und dem Ludwik Fleck Zentrum, stand dieses Jahr unter dem Motto «Science & Democracy». Wie sich Wissenschaft in demokratischen und nicht-demokratischen Ländern verhält – darüber sprachen Peter Chen, ETH-Professor für Physikalisch-Organische Chemie, und Professor Wilhelm Gruissem vom Departement Biologie.

Alice Werner
Peter Chen, Professor für Physikalisch-Organische Chemie (links), und Wilhelm Gruissem, Professor für Pflanzenbiotechnologie, sprachen zum Thema «Science & Democracy». (Bild: Alice Werner)
Peter Chen, Professor für Physikalisch-Organische Chemie (links), und Wilhelm Gruissem, Professor für Pflanzenbiotechnologie, sprachen zum Thema «Science & Democracy». (Bild: Alice Werner) (Grossbild)

Das Latsis-Symposium sollte dieses Jahr auch an den 50. Todestag von Ludwik Fleck erinnern, den polnischen Mikrobiologen, Mediziner und Wissenschaftshistoriker, dessen Werk in den letzten dreissig Jahren zu einem Klassiker der Wissenschaftsgeschichte geworden ist. Fleck war einer der ersten, der Mitte der 1930er Jahre Erkenntnis als soziales Phänomen bezeichnete: Wissenschaftlergruppen waren für ihn «Denkkollektive», die in gedanklicher Wechselwirkung standen. Die Wissenschaft, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hat, beschrieb er als demokratisch, denn die wissenschaftliche Community sei dynamisch und offen strukturiert, also grundsätzlich jedem zugänglich. Wissensbildung sei zudem durch demokratische Prozesse wie zum Beispiel das Peer-Review-System und den freien Austausch auf Konferenzen legitimiert und würde damit auch im Dienst des allgemeinen Wohls stehen.

An diese Gedanken des geistigen Vaters des Symposiums knüpfte die Panel-Diskussion mit den ETH-Professoren Peter Chen und Wilhelm Gruissem an. Moderator Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH und Direktor des Zentrums Geschichte des Wissens, fragte die Teilnehmer der Diskussionsrunde einleitend nach ihren Erfahrungen mit dem Singapore-ETH Centre for Global Environmental Sustainability (SEC), einer fremdfinanzierten Forschungskooperation zwischen der ETH Zürich und der Singapore's National Research Foundation.

Wissenschaftliche oder wirtschaftliche Interessen?

Peter Chen, der von 2007 bis 2009 als Vizepräsident für Forschung und Wirtschaftsbeziehungen in der Schulleitung mitwirkte, war als Delegierter auch an Entscheiden bezüglich der ETH-Aussenstelle in Singapur beteiligt. Chen betonte in seinen Ausführungen zunächst den generellen Unterschied von akademischer Forschung und Forschung in einem Unternehmen. Anders als an Universitäten gäbe es in unternehmensgebundenen Forschungseinrichtungen oder Stiftungen starke hierarchische Strukturen: Oft ginge es in diesen «research groups» nicht um wissenschaftliche, sondern wirtschaftliche Freiheit; den Wissenschaftlern würden die Forschungsfragen von höchster Stelle diktiert, ihre Autonomie sei zum Teil sehr gering. Auch die Verantwortlichen für das ETH-Forschungszentrum in Singapur hätten die Zusammenarbeit mit Zürich in erster Linie als ökonomische Chance für die heimische Industrie betrachtet, viele Entscheidungen seien politisch motiviert gewesen: «Die Regierung dort wollte Einfluss nehmen, welche Forschungsbereiche die Kooperation abzudecken habe.» Insofern, berichtete Chen, hätte es im Vorfeld der Singapur-ETH-Kooperation – gerade von Seite der ETH-Professorenschaft – einige Bedenken gegeben. Als Wissenschaftler, so Chen, empfände er es durchaus als schwierig, wenn so unterschiedliche Wertauffassungen aufeinander prallten.

Gute Ideen für West-Ost-Kooperation

Wilhelm Gruissem, der ebenfalls in frühe Verhandlungen mit Singapur involviert war, teilte Chens Haltung nur bedingt: Für ihn stehe bei dieser Kooperation der kulturelle Austausch und der Wertetransfer im Mittelpunkt. «Trotz unterschiedlicher Vorstellung von Wissenschaft kann durch die Zusammenarbeit etwas entstehen, das einen Wert an sich hat.» Zudem könne man durch Kreativität und Ideen den demokratischen Wandel im wirtschaftlich boomenden Zwergstaat beschleunigen. In zwanzig Jahren, gab Gruissem zu bedenken, werde sich akademische Forschung in Singapur wohl etabliert haben, und dann «ist es nur positiv, wenn die ETH Zürich schon vor Ort ist». Als Beispiel für eine gelungen West-Ost-Kooperation verwies Gruissem auf sein eigenes Forschungsgebiet, die Pflanzenbiologie: «Hier hat sich eine gute Zusammenarbeit zwischen der ETH und dem Shanghai Institut of Biological Sciences entwickelt. Auch dank einiger chinesischer Postdoktoranden, die nach ihrem Studium in der Schweiz zurück nach China gegangen sind, existiert ein enges Forschungsnetzwerk, viele Projekte werden von beiden Hochschulen zu gleichen Teilen finanziert.»

Nachholbedarf auf politischer Ebene

Die hohe Wertschätzung der Chinesen für das westliche Wissenschaftssystem hat auch Peter Chen beobachtet: «Für viele Intellektuelle ist es sehr wichtig, ihren Doktortitel in den USA oder Europa entgegen zu nehmen.» Die Chinesen seien sehr stolz darauf, wie schnell sie in den Wissenschaften aufgeholt hätten. Ganz anders sehe es aber auf politischer Ebene aus: Während der Grossteil der jungen chinesischen Wissenschaftselite ihre Ausbildung im Westen erhalten habe, sei die Generation der älteren Politikerriege noch im Sowjetsystem sozialisiert worden. «Die chinesische Politik steht westlichen Einflüssen nach wie vor kritisch gegenüber.»

In Ludwik Flecks Argumentation leuchtet der enge Zusammenhang von Wissenschaft und Demokratie ein – doch die Teilnehmer der Panel Diskussion meldeten Zweifel an. Die Ausgangsfrage, ob Wissenschaft ein Modell für Demokratie sein kann, ob westliche Werte über den 'Umweg' der Universitäten auch politische Strukturen wie etwa in China beeinflussen können, liess sich in der halbstündigen Diskussionsrunde nicht klären. «Wissenschaftler dürfen nicht nur ihrer Neugierde folgen, es besteht ein gesellschaftlicher Anspruch, dass sie etwas 'Nützliches' machen. Sie sind also nicht immer frei in ihren Entscheidungen – und daher als Vorbild für Demokratie nur bedingt geeignet», sagte Gruissem. Ausserdem, so Peter Chen, gebe es – zum Beispiel in der Pharmaforschung – viele Beispiele für sehr erfolgreiche Forschung innerhalb von hierarchisch organisierten Unternehmen. Beweise dies nicht, dass Demokratie nicht unbedingt Voraussetzung für Wissenschaft sein müsse?

 
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