Veröffentlicht: 19.05.11
Science

Mengen sind nicht weiser

Die Weisheit von vielen ist nicht immer der Weisheit letzter Schluss. Eine neue Studie an der ETH Zürich zeigt, dass Menschen in die Irre geführt werden, wenn sie auch nur in milder Form beeinflusst werden.

Peter Rüegg
Ist es immer besser, wenn viele gemeinsam in die gleiche Richtung blicken? Eine Studie zweifelt an der «Weisheit der Vielen», wenn Beeinflussung ins Spiel kommt. (Bild: jakuuub/flickr.com)
Ist es immer besser, wenn viele gemeinsam in die gleiche Richtung blicken? Eine Studie zweifelt an der «Weisheit der Vielen», wenn Beeinflussung ins Spiel kommt. (Bild: jakuuub/flickr.com) (Grossbild)

Eigentlich wollte der britische Forscher Francis Galton anfangs des 20. Jahrhunderts beweisen, wie dumm die Massen sind. Auf einem Viehmarkt liess er deshalb das Gewicht eines Ochsen schätzen. Und staunte nicht schlecht, dass der Mittelwert der verschiedenen Schätzungen dem effektiven Gewicht des Tieres sehr nahe kam. Damit hatte Galton das Gegenteil bewiesen: Eine Menge von Menschen kommt eher auf die richtige Lösung als eine Einzelperson, was fortan als «Wisdom of crowds» in die Lehrbücher einging. Diese Weisheit von Vielen machte fast hundert Jahre später auch James Surowiecki zum Bestsellerautor, indem er viele Beispiele aufführte – angefangen von Aktienmarkten über Wahlen bis hin zu Quizshows.

Doch eine neue Studie an der ETH Zürich zeigt nun, dass sich Massen eben doch irren und sich weit von der besten Lösung entfernen können. Dies geschieht schon dann, wenn sie von aussen nur milde beeinflusst werden, wie das Experiment einer interdisziplinären Forschungsgruppe zeigt, an dem der Mathematiker Jan Lorenz, der Soziologe Heiko Rauhut und die beiden ETH-Professoren Dirk Helbing und Frank Schweitzer beteiligt waren. Dazu stellten die Forscher insgesamt 144 Studenten sechs Faktenfragen, etwa wie hoch die Bevölkerungsdichte in der Schweiz liegt oder wie lange die Grenze zwischen Italien und der Schweiz ist. Zuerst musste jede Versuchsperson die Fragen gänzlich unbeeinflusst beantworten. Vor der zweiten Runde erhielten sie entweder die Information über den Durchschnittswert der übrigen Probanden oder ein vollständiges Abbild aller individuellen Schätzungen. Diese zwei Bedingungen wurden mit einer Kontrollgruppe verglichen, in der die Probanden keine Informationen über andere Schätzungen erhielten. Für ihre Antworten bekamen die Studierenden einen finanziellen Anreiz - je besser die Antwort, desto mehr Geld erhielten sie.

Beeinflusst zum falschen Resultat

Die Resultate der Befragungen zeigte den Forschern: Schon ein geringer sozialer Einfluss – in diesem Fall das Wissen um die Schätzungen der anderen Studienteilnehmern - unterminiert die «Weisheit der Vielen». Die Schätzungen begannen sich anzugleichen, es lief alles auf einen Konsens hinaus. Gleichzeitig vergrösserte sich der Fehler des Kollektivs, und die richtige Lösung entsprach am Ende eher den abweichenden Meinungen, oder sie fiel ganz aus dem Meinungsspektrum heraus. Die Gruppe wurde als Ganzes also nicht klüger. Nichtsdestotrotz wiegten sich die Probanden durch die Annäherung ihrer Schätzungen in einem trügerischen, erhöhten Sicherheitsgefühl.

Wer eine Frage beantwortet, scheint die Meinungen der anderen im Blick behalten zu wollen, denn sie könnten ja eine Information besitzen, die einem selbst fehlt. Vielleicht ist auch das Harmoniebedürfnis stärker als die Suche nach der richtigen Lösung.

«Das ist allerdings kein Garant für die Korrektheit der Lösung», betont Rauhut. Denn die Konvergenz der Meinungen verleite zur Annahme, dass die Gruppe die richtige Lösung schon gefunden hat oder noch finden wird. Dies lässt sich auch bei Internet Usern beobachten: Ein mittelmässiger Song kann zum Hit werden, wenn man ihn nur richtig platziert und Download-Zahlen dazu publiziert. Nach dem Motto «Wo viele Downloads sind, muss auch Qualität vorhanden sein» steigt das Vertrauen der User, dass das Lied wirklich gut ist.

Problem der Meinungsfindung

Bei Geschmacksfragen ist das vielleicht kein Problem. Aber mit zunehmendem Konsens steigt selbst bei fehlerhaften Schätzungen das Vertrauen der Probanden in ihre Lösung, denn die Mehrheit der anderen ist ja zum gleichen Ergebnis gekommen. «Das ist ein Problem unserer Meinungsfindungskultur», sagt Helbing. Der Herdentrieb, gepaart mit Selbstüberschätzung, sei letztlich auch einer der Gründe der Finanzkrise gewesen. Warnungen wurden in den Wind geschlagen, Finanzexperten beeinflussten andere Finanzexperten. Wer die Probleme beim Namen nannte, wurde abgekanzelt – Gruppen- und Konformitätsdruck verhelfen falschen Lösungen und Meinungen letztlich zum Durchbruch.

«Je weniger man sich insgesamt beeinflussen lässt, desto besser werden die mittleren Schätzungen. Die Unabhängigkeit der verschiedenen Meinungen ist enorm wichtig», unterstreicht Helbing, der auch das FuturICT Projekt leitet, welches sozio-ökonomischen Krisen entgegentreten will. Das gelte nicht nur für die Börse oder die Politik, sondern auch für Wissenschaft. «Pluralismus ist besser als Konsens.»

Einflüsse sind allgegenwärtig

Die Studie räumt allerdings ein, dass es kaum mehr möglich ist, unbeeinflusst Dinge zu beurteilen. In der heutigen Gesellschaft sei es kaum machbar, unabhängige Meinungen zu erhalten, da die meisten Menschen in sozialen Netzen eingebettet seien und dadurch einander ständig beeinflussen würden. «Es ist in der Tat erstaunlich, dass schon geringfügige soziale Einflüsse Herdenverhalten und andere negative Nebeneffekte auslösen», schliesst Helbing. «Kommen ausserdem Gruppenzwang, Kooperations- oder Konkurrenzgesichtspunkte ins Spiel, kann sozialer Einfluss die Meinungen noch viel stärker verfälschen.»

Literaturhinweis

Lorenz J, Rauhut H, Schweitzer F, Helbing D. How social influence can undermine the wisdom of crowd effect. PNAS early edition. www.pnas.org, doi:10.1073/pnas.1008636108