Veröffentlicht: 04.05.11
Science

Mit moderner Informationstechnologie die Zukunft erkunden

Mit FuturICT möchten europäische Forscher ein weltumspannendes Computermodell schaffen – eine Art kollektive Analyseplattform für ein besseres Verständnis der Welt. Dieser Wissensbeschleuniger soll, so die visionäre Idee, bessere Voraussagen über drohende sozio-ökonomische Krisen sowie Vorschläge zu deren Abschwächung oder gar Prävention machen.

Peter Rüegg
Das Projekt «FuturICT» will unter anderem modellieren, wie sich politische Entscheide global auf Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft auswirken (Bildquelle: www.futurict.eu)
Das Projekt «FuturICT» will unter anderem modellieren, wie sich politische Entscheide global auf Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft auswirken (Bildquelle: www.futurict.eu) (Grossbild)

Die Menschheit stand noch nie vor solch grossen Herausforderungen wie heute. Klimawandel, Umweltzerstörung, Konflikte sowie Krisen an den Finanzmärkten gehören dazu, und all diese Probleme sind mit menschlichem Verhalten verknüpft. Sie stehen auch nicht isoliert da, sondern sind miteinander vernetzt und voneinander auf komplizierte Weise abhängig. Kein Mensch kann diese Komplexität überschauen, geschweige denn absehen, welche Auswirkungen menschliches Handeln anderswo in der Welt hat.

Eine Gruppe von Wissenschaftlern unter der Leitung des Komplexitätsforschers Dirk Helbing von der ETH Zürich hat nun ein Projekt vorgeschlagen, mit dem sie diese grossen Herausforderungen angehen möchten: «FuturICT». Das Projekt sieht ein Modell vor, den «Living Earth Simulator», der technisch-wirtschaftlich-gesellschaftlich-ökologische Systeme zu simulieren und zu analysieren erlaubt, beispielsweise wie sich politische oder ökonomische Entscheidungen auf unsere Welt auswirken. Das Computermodell soll in der Lage sein, Systeme von globalem Massstab mit Wechselwirkungen von 10 Milliarden verschiedenen Individuen zu simulieren.

Ein Wissensbeschleuniger tut Not

«Wir brauchen diesen Wissensbeschleuniger, um im techno-sozio-ökonomisch-ökologischen Kontext besser informierte Entscheidungen treffen zu können», sagt Projektkoordinator Dirk Helbing. Die «Living Earth Plattform» soll unter anderem dabei helfen, unerwünschte Nebeneffekte zu minimieren oder gar zu verhindern. So hat beispielsweise die Produktion von Biokraftstoffen durch die Konkurrenz mit konventionell genutzten Anbauflächen unerwartet zu Preiserhöhungen von Lebensmitteln geführt. Die Folge waren und sind soziale Unruhen in verschiedenen Teilen der Welt.

Dass die Zeit reif ist für dieses Projekt, zeigt zum Beispiel die Finanzkrise, welche innerhalb kürzester Zeit immense Werte vernichtet hat und ohne den europäischen Rettungsschirm sowie globale Interventionen ganze Staaten in den Ruin treiben würde. Sie sei ein Beleg dafür, dass Ökonomen und Finanzspezialisten die drohenden Gefahren nicht frühzeitig genug erkannt hätten oder die Risiken nicht ausreichend unter Kontrolle halten konnten. Deshalb wird auch der Ruf nach besseren Modellen — insbesondere zur realistischen Quantifizierung von Risiken — immer lauter.

FuturICT soll jedoch nicht nur drohende Finanz- oder Wirtschaftskrisen frühzeitig erkennen, sondern auch verschiedene Bereiche miteinander verknüpfen. Integriert in die «Living Earth Plattform» sind diverse «Crisis Observatories», die sich mit Finanzmärkten, Realwirtschaft, Epidemien, Konflikten oder Umweltveränderungen befassen sollen.

Mit EU Flagships zu neuen Wissenshorizonten

Noch existiert die Initiative erst als Forschungsantrag, den das Konsortium bei der EU-Forschungskommission eingereicht hat. Bei der Vorauswahl der besten sechs aus 26 eingereichten Projekten steht FuturICT zurzeit an erster Stelle. Das Sieger-Projekt soll über 10 Jahre hinweg eine Milliarde Euro erhalten. Die definitive Wahl trifft die Kommission erst 2012. Bis dahin haben die Forscher Zeit, die Anträge im Detail auszuarbeiten, wozu ihnen die EU-Kommission 1,5 Mio. Euro zur Verfügung gestellt hat.

Eine Milliarde Euro klingt nach viel Geld. Grossprojekte in der Physik (CERN, ITER), den Ingenieurwissenschaften (Galileo) oder der Biologie (Human Genome Project) sind aber oft zehnmal so teuer, und die Finanzkrise hat bisher mehr als tausendmal so viel gekostet. Auch Laufzeit und Grösse des Projekts relativieren diese Zahl stark: Hunderte von Forschern beteiligen sich an FuturICT, um die drängenden Wissenslücken in unserer Gesellschaft schnellstmöglich zu füllen.

Ein Musterbeispiel von Interdisziplinarität

Das Projekt wird aussergewöhnlich interdisziplinär ausgerichtet sein und ein breites Spektrum an wissenschaftlichen Disziplinen verbinden, um das Spezialistentum und Silodenken zu überwinden. Es braucht Informatiker und Komplexitätswissenschaftler, aber auch Ökonomen und Soziologen bis hin zu Experten für Nachhaltigkeit und systemische Risiken. Diese Zusammenarbeit soll einerseits zu einer neuen Blüte der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften führen und andererseits zu einer harmonischen und nachhaltigen «Koevolution» von Technik und Gesellschaft, durch die Entwicklung von Informations- und Kommunikationssystemen, die sich den Bedürfnissen ihrer Nutzer anpassen.

Damit dies gelingt, braucht es insbesondere eine moderne Plattform, die riesige Datenmengen aufnehmen, analysieren, in Computersimulationen übertragen und für alle nutzbar machen kann. ICT steht daher auch für «Information and Communication Technologies». Um den Living Earth Simulator zu betreiben, sind in Echtzeit erhobene Datensätze, aber auch neue Ansätze im Data Mining nötig.

Datenquellen können zum Beispiel Bevölkerungsstatistiken sein, aber auch frei zugängliche Internetdaten. Dabei zeigt sich auch eine der Schwierigkeiten, mit denen die Forscher umgehen müssen: Wie viele und welche Daten braucht man überhaupt für ein solches Modell? «Wir sammeln nicht blindwütig alle zur Verfügung stehenden Daten», versichert Helbing. Man drohe sonst, in einem Datenmeer zu ertrinken.

Big Science statt Big Brother Science

Er will FuturICT auch nicht als Instrument zur Überwachung der Bürgerinnen und Bürger verstanden wissen. Ganz im Gegenteil: Mit diesem Projekt wollen die Wissenschaftler neue Wege und Lösungen aufzeigen, um die Privatsphäre im digitalen Zeitalter besser schützen zu können. «Am individuellen Verhalten sind wir überdies gar nicht interessiert», sagt Helbing. Man wolle die grossen Zusammenhänge verstehen.

FuturICT könnte beispielsweise Aussagen treffen, welche Folgen das Erdbeben von Japan für das weltweite Liefer- und Produktionsnetzwerk hat oder für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Soziale Umbrüche, Migration, Konflikte – auf eine bestimmte Art und Weise hängt alles miteinander zusammen. «Diese Zusammenhänge wollen wir mit FuturICT besser verstehen», sagt Dirk Helbing, «um in Zukunft bessere und nachhaltigere Entscheidungen fällen können. Denn gerade die globalen Abhängigkeiten haben enorm zugenommen. Hätte man sie verstanden, wäre es wohl kaum zu einer Finanzkrise dieses Ausmasses gekommen.»

Mit dem Projekt und den geplanten partizipativen Plattformen beabsichtigen der ETH-Professor und die hinter FuturICT stehende Forschergemeinde auch die Demokratie zu stärken. «Vor allem darf die Demokratie durch die technologische Entwicklung nicht gefährdet werden.» Deshalb werde sich FuturICT unter anderem damit befassen, wie mit frei im Internet verfügbaren Daten umgegangen werden kann und soll. «Wirtschaft und Gesellschaft haben hier noch keinen Konsens gefunden.» Die Meinung, dass die Privatsphäre im digitalen Zeitalter ausgedient habe, teile er ganz und gar nicht. Eine Gesellschaft könne ohne Privatsphäre des Einzelnen überhaupt nicht funktionieren. «Öffentlichkeit und Privatsphäre sind zwei Seiten einer Medaille, man kann Öffentlichkeit nur in Abgrenzung von Privacy definieren.»

Privacy wird gross geschrieben

Es sei daher eine besondere Herausforderung, neue technische Methoden der Datenverschlüsselung, -speicherung und -verarbeitung zu entwickeln, die ein Data Mining ermöglichen, welches Individuen und Gesellschaft nutzt, aber auch die Privatsphäre und vertrauliche wirtschaftliche Daten schützt. Dennoch müsse eine begrenzte und demokratisch kontrollierte Einsicht in Daten möglich sein, wo es die Bekämpfung von Korruption und Terrorismus erfordert. Bisher fehlen technische Lösungen, die alle drei Anforderungen erfüllen können.

«Wichtig ist vor allem, Wege zu finden, um uns die verloren gegangene Kontrolle über persönliche Daten zurück zu geben», unterstreicht Helbing. Das empfiehlt inzwischen auch das World Economic Forum. Er betont zudem, dass FuturICT einen Forschungsschwerpunkt auf ethischen Fragen und einen klaren Wertekodex habe. FuturICT werde den Schutz sensibler Daten gross schreiben sowie vollkommen transparent und demokratisch kontrolliert sein. «Unter allen Aktivitäten, die sich mit großen Datenmengen beschäftigen, ist dies das transparenteste Projekt, das es gibt.» Ohne ein solches Projekt werde es kaum möglich sein, etwas über die Gefahren grosser Datensätze zu lernen und wirksame Massnahmen zu ergreifen, um die Gesellschaft vor diesen Gefahren zu schützen.

Eine Milliarde für Flaggschiff-Programme der EU

Im Rahmen ihres 7. Forschungsrahmenprogramms hat die EU Grossprojekte, so genannte Flaggschiff-Initiativen, im Bereich Future and Emerging Technologies (FET) ausgeschrieben. Mit den FET Flagships will die EU grosse, ambitiöse Forschungsvorhaben mit visionärem Ziel bei der Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) fördern. Dazu stellt die EU über einen Zeitraum von zehn Jahren eine Milliarde Euro in Aussicht. Auf diese Ausschreibung hin haben 26 Konsortien Projekte eingereicht. Im März dieses Jahres wurden die sechs aussichtsreichsten Kandidaten ermittelt, darunter zwei Projekte mit massgeblicher ETH Zürich - Beteiligung: «FuturICT» und «Guardian Angels». Anlässlich der 2. FET-Konferenz und -Ausstellung von 4. Mai bis 6. Mai 2011 in Budapest präsentieren die Finalisten öffentlich ihre Vorhaben. Danach haben die Forschungsgruppen bis Mai 2012 Zeit, um einen detaillierten Antrag auszuarbeiten, der die Grundlage sein wird für den definitiven Entscheid. 2013 können die siegreichen Konsortien mit der Arbeit beginnen.