Veröffentlicht: 23.11.10
Campus

Architektonische Befreiung aus der Isolationshaft

Am vergangenen Freitag stellten Vertreter des Departements Architektur die «Towards Zero Emission Architecture» Fachleuten aus Industrie und Forschung vor. Für viele Besucher stand danach fest: Bei der neuen Strategie handelt es sich weniger um einen gänzlichen Bruch mit Labels wie «Minergie» und der «2000-Watt-Gesellschaft», sondern um eine logische Weiterentwicklung davon.

Samuel Schläfli
Experten im Gespräch über nachhaltiges Bauen an der Veranstaltung «Towards Zero Emission Architecture»: Werner Sobek, Andrea Deplazes, Hansjürg Leibundgut, Hans-Rudolf Schalcher, Gion Caminada und Annette Gigon (v.r.n.l) (Bild: Jürgen Baumann)
Experten im Gespräch über nachhaltiges Bauen an der Veranstaltung «Towards Zero Emission Architecture»: Werner Sobek, Andrea Deplazes, Hansjürg Leibundgut, Hans-Rudolf Schalcher, Gion Caminada und Annette Gigon (v.r.n.l) (Bild: Jürgen Baumann)

Dunkle Anzüge und schwarze Rollkragenpullis bestimmten das Bild am vergangenen Freitag Morgen im Foyer des HIT-Gebäudes auf dem Campus Science City. Die ETH-Architekten hatten zur Ankündigung eines Paradigmenwechsels im Bau geladen und der Tagungsmoderator Hans-Rudolf Schalcher mutmasste, ob die monochrome Bekleidung ein Indiz für die Beerdigung des «Minergie»-Labels sei. Für viele der anwesenden Architekten, Ingenieure, Bauherren und Energiefachleute entpuppte sich der «Bruch» mit bisherigen Nachhaltigkeitsanstrengungen im Bau später jedoch als weit weniger drastisch als zu Beginn angenommen.

Anspielung an Le Corbusier

Ralph Eichler, Präsident der ETH Zürich, bettete die «Towards Zero Emission Architecture» in die drängenden Probleme unserer Zeit ein. Der Klimawandel sei Realität und fordere auch im Bau ein Umdenken, so der Präsident. Nicht die Energie sei heute das Problem, sondern die Materialflüsse. Marc Angélil, Vorsteher des Departements Architektur, stellte die neue Position seines Departements darauffolgend in eine Reihe mit Le Corbusiers «Esprit Nouveau», mit welchem der Architekt in den 20er-Jahren einen Paradigmenwechsel in der Architektur hin zu mehr Funktionalität einläutete. Angélil bezeichnete den neuen Ansatz als 0-Grad der Architektur, der eine Gegenposition zur internationalen Stararchitektur und dem selbstbezogenen Bauen darstellen soll. Er plädierte für eine ehrlichere Architektur, die sich auf ihre Essenz rückbesinnt, in welcher einzelne Bauteile mehrere Funktionen übernehmen und dadurch ein sparsamer Umgang mit Materialien gepflegt wird.

Gion Caminada, ausserordentlicher Professor an der ETH und Architekt, der vor allem für seine Holzbauten in Graubünden bekannt ist, beschwor in einem philosophischen Referat die Vielfalt und Differenz als massgebliches Element in der Architektur. Gegen die Idee des Energiesparens mit Passivhäusern und Minergie sei grundsätzlich nichts einzuwenden, so Caminada. Doch führten die Strenge und Einseitigkeit dieser Labels zu einer Verminderung der baulichen Vielfalt und einer «Verhinderung von Orten in ihrer Ganzheit», wie der Architekt ausführte. Für Caminada steht fest: Energieeffizienz alleine kann nicht das Kriterium für eine gute Architektur sein.

Gegen die «Verpackungsarchitektur»

Die Unzufriedenheit der Architekten mit den bestehenden Energielabels kam in Wortmeldungen aus dem Publikum mehrmals zum Tragen. Und auch Andrea Deplazes, der den Umgang des Architekten mit energetischen Fragen anhand der von ihm und seinen Studenten entworfenen Neuen Monte-Rosa-Hütte erläuterte, sprach von einer Architektur, die zwischenzeitlich in Isolationshaft genommen wurde. Eine mögliche Befreiung aus dem Diktat der «Verpackungsarchitektur», sieht Deplazes in einer engeren Zusammenarbeit von Architekten und Technikern, wie dies bei der Monte-Rosa-Hütte der Fall war.

Architekten wie Christian Kerez, Annette Gigon, Reto Pfenninger und David Leuthold erläuterten daraufhin an realisierten Bauprojekten, wie die bestehende Gesetzgebung Architekten immer wieder zu unsinnigen Lösungen zwingt und die gestalterische Freiheit beschneidet. Kerez, aber auch Leuthold, betonten jedoch, dass Restriktionen von Minergie und 2000 Watt-Gesellschaft durchaus auch zu interessanten Lösungen anregen können.

Hansjürg Leibundgut erläuterte anschliessend das technische Rückgrat der «Towards Zero Emission Architecture», die den Fokus auf die Emissionen und nicht den Energieverbrauch legt. Anstelle von dicken Dämmungen soll Abfallwärme, zum Beispiel Abwärme von Menschen, mit einem externen Speicher über Erdsonden genutzt werden. Gleichzeitig können die Wärmeflüsse aufgrund einer Reihe von technischen Innovationen, wie sparsamen LED-leuchten, Fenstern mit Wärmefiltern und neuen Minicomputern für ein besseres Energiemanagement optimiert werden. Anhand der Rennovation des HPZ-Gebäudes auf dem Campus Science City erklärte Leibundgut, wie auch bei bestehenden Gebäuden ohne materialaufwendige und teure Fassadenerneuerung CO2-Emissionen vermindert werden können.

Wirtschaftliche Bedenken, wonach Emissions- und Energiesparksamkeit zwangsläufig mit einem Verlust an Komfort einhergehen müssen, zerschlug der ETH-Ressourcenökonom Lucas Bretschger. Anhand von selbst durchgeführten Simulationen kommt er zum Schluss: Der Umschwung auf emissions- und energiearme Technologien führt zwar zu einem sanften Strukturwandel, trotzdem ist Wachstum in sämtlichen Industriebereichen auch weiterhin möglich. Den Bremsklotz für die Einführung von emissionsärmeren Technologien sieht der Ökonom denn auch weniger in wirtschaftlichen Bedenken, als in mangelndem politischen Gestaltungswille.

Knochenbau als Vorbild für verminderten Materialverbrauch

Werner Sobek, Professor an der Universität Stuttgart, zeigte gegen Ende der Tagung nochmals eine ganze Palette von technischen Werkzeugen zur Minderung von Emissionen im Bau. Zum Beispiel poröse Betonwände, die mit 60 Prozent weniger Material auskommen und sich in der Konstruktion an den menschlichen Hüftgelenkknochen orientieren. Sobek bemängelte beim heutigen Bauen die einseitige Betrachtung des Energieverbrauchs während des Betriebs. Nur wenigen sei jedoch bewusst, dass im Baumaterial eines Einfamilienhauses aus den 80er-Jahren soviel graue Energie steckt, wie dieses in 25 Jahren Betrieb verbraucht. Sobek plädierte deshalb auch für ein konsequentes Recycling. Ihm sei nicht schlüssig, weshalb in der deutschen Autoindustrie heute rund 90 Prozent der Materialien recycelt werden, während man diesbezüglich im Bau noch nirgends sei. Ein Grundproblem besteht seiner Meinung nach darin, dass in einem Verbundsystem aus Mauer und Mörtel heute über 20 verschiedene Stoffe enthalten sind, die praktisch nicht mehr zu trennen sind. An eigenen Projekten erklärte er, wie Häuser über Stabilisierung durch Last, Klettverschlüsse und Magnete zu 100 Prozent recyclebar sind. Durch geeignete Konstruktion und schlaue Haustechnik wird zudem nur noch ein Bruchteil des Materials benötigt, das in vergleichbaren herkömmlichen Gebäuden verbaut wird. Ähnlich wie Deplazes, plädierte auch Sobek für eine nähere Zusammenarbeit von Ingenieuren und Architekten zugunsten einer emissionsfreien Architektur.

Auflehnung und Aufruf zur Zusammenarbeit

Viele anwesende Architekten schienen sich am Ende einig darüber, dass nicht Labels wie «Minergie» oder das internationale «LEED» das eigentliche Problem sind. Dahinter ständen durchaus löbliche Absichten, so der Tenor. Problematisch sei vor allem, dass solche Labels Eingang in Gesetzgebungen finden, die wiederum zu bestimmten baulichen Lösungen verpflichten. Zulange hätten die Architekten geschwiegen, so ein Kommentar aus dem Publikum, es sei nun an der Zeit, sich dagegen aufzulehnen und sich bei der Politik Gehör zu verschaffen.

Bis zu welchem Grad ein Aufbruch hin zur «Towards Zero Emission Architecture» tatsächlich ein Bruch mit den Zielen des nachhaltigen Bauens nach «Minergie» und der «2000-Watt Gesellschaft» ist, schien vielen Anwesenden am Ende der Tagung nicht mehr ganz klar. Der Moderator Hans-Rudolf Schalcher forderte die ETH-Architekten und Vertreter der Energielabels am Ende der Tagung entsprechend dazu auf, wieder Gespräche aufzunehmen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu prüfen. Doch wie Hansjürg Leibundgut abschliessend meinte: «Irgendwann wird man halt zum Mephisto, wenn neue Ideen zu lange kategorisch ausgegrenzt werden.»