Veröffentlicht: 18.11.10
Campus

«Architektur muss wieder ehrlicher und direkter werden»

Das Departement Architektur der ETH Zürich denkt nachhaltige Architektur neu: Nicht mehr der Energieverbrauch soll zukünftig im Zentrum der Anstrengungen stehen, sondern die Kohlendioxid-Emission beim Bau und Betrieb. Marc Angélil erklärt im Interview, weshalb die Zeit reif ist für einen Paradigmenwechsel in der Architektur.

Samuel Schläfli
Marc Angélil, Vorsteher des Departements Architektur, bricht mit herkömmlichen Nachhaltigkeitsstandards im Bau und setzt sich für weniger Materialverbrauch und verminderte Kohlendioxid-Emissionen ein.  (Bild: Hannes Huebner)
Marc Angélil, Vorsteher des Departements Architektur, bricht mit herkömmlichen Nachhaltigkeitsstandards im Bau und setzt sich für weniger Materialverbrauch und verminderte Kohlendioxid-Emissionen ein. (Bild: Hannes Huebner) (Grossbild)

Herr Angélil, Ihr Departement stellt am Freitag Fachleuten aus Bau und Architektur die Grundsätze der «Towards Zero-Emission Architecture» vor. Geschlossen fordern die Professoren damit eine Abkehr vom Fokus auf Energieverbrauch und dicke Dämmungen, wie sie Standards wie «Minergie» propagieren. Wieso sollen die Emissionen zur neuen Zielgrösse in der Architektur werden?
Der Gebäudepark verursacht heute rund die Hälfte des landesweiten Gesamtenergieaufwandes und der CO2-Emissionen. Wir richten uns mit «Towards Zero-Emission Architecture» nach dem Ideal der 1-Tonne-CO2-Gesellschaft, so wie sie in der Energiestrategie der ETH Zürich verankert ist. Jeder Mensch soll seine CO2-Emissionen pro Jahr und Kopf auf eine Tonne reduzieren; wie viel Energie er dabei verbraucht, ist nicht wesentlich. Es bringt nichts, ad absurdum Energie zu sparen, ohne dabei die Gesamtheit der Emissionen zu berücksichtigen. Zur Umsetzung der Ziele der 1-Tonnen-CO2-Gesellschaft braucht es Beiträge von allen Seiten, auch von der Architektur.

Viele Architekten haben sich in der Vergangenheit über das stilistische Korsett von Nachhaltigkeitsstandards beklagt. Ist ihr Vorstoss in erster Linie ein Befreiungsschlag für mehr gestalterische Freiheit?
Natürlich auch, denn wir wehren uns damit gegen einseitige Normen. Wenn man alle Bauten mit einer 50-Zentimeter dicken Aussenhülle verpacken muss, ist der Architekt in einer Zwangsjacke. Mit dünneren Wänden, aufgrund von intelligenteren Wärmeflüssen, erhalten wir wieder grössere Freiheiten in der Konstruktion.

Und wie sieht emissionsarmes Bauen konkret aus?
Mit «Towards Zero-Emission» benötigen wir auch weniger Material. Ich gebe ihnen ein Beispiel: In Esslingen plane ich zurzeit den Bau von 60 Wohnungen. Mit einem zentralen Schwarm von Erdsonden in 300 Meter Tiefe wird die ganze Siedlung klimatisiert. Im Sommer speichern wir überschüssige Wärme im Boden, im Winter brauchen wir diese wieder zum Heizen. Damit wird das Gebäude einen Überschuss an Wärme produzieren und wir brauchen keine dicken Isolationen mehr. Wir können die Wände also von 50 Zentimeter Breite, wie beim «Minergie»-Standard üblich, auf 30 Zentimeter reduzieren. Über die ganze Siedlung hinweg sparen wir dadurch 340 Quadratmeter Fläche und 1000 Kubikmeter Material. Schon beim Bau fällt damit weniger graue Energie durch Transport und Materialproduktion an.

Wie beeinflusst der sparsamere Materialeinsatz den Entwurf?
Optimierte Materialflüsse bedingen eine andere Haltung, eine neue Form der Ästhetik und ein veränderter Umgang mit Materialien. Wir gehen zurück zum Rohbau; Architektur muss wieder ehrlicher und direkter werden. Darunter verstehe ich auch den Verzicht auf mehrere Schichten; wir brauchen nicht überall makellose Verschalungen und Abdeckungen. Wichtiger wäre es, jedes Bauteil mehrfach zu nutzen. Eine Betonplatte kann auch ein Wärmespeicher sein und dabei gleichzeitig feuertechnische und akustische Aufgaben im Gebäude übernehmen.

Neben den reduzierten Materialflüssen beim Herstellungs- und Entsorgungsprozess sieht die Strategie einen emissionsfreien Betrieb des Gebäudes vor. Woher soll die Energie dafür kommen?
Es gibt mehr als genug emissionsfreie Energie, wir müssen diese nur intelligent nutzen. Dafür müssen wir den energetischen Kontext eines Baus richtig erfassen und alle emissionsfreien Quellen anzapfen. Menschliche Exkremente zum Beispiel sind circa 37°C warm; zum Heizen brauchen wir aber nur 18°C. Es wäre also sinnvoll, diese Abwärme zu nutzen – erste Testanlagen für die Wärmerückgewinnung sind bereits in Betrieb. Das gleiche gilt auch für die Wärme, die unser Körper andauernd abstrahlt.

Alleine damit heizt man aber noch kein zehngeschossiges Geschäftshaus.
Nein, aber auch die Sonnenenergie ist im Überfluss vorhanden und um diese zu nutzen und zu speichern, stehen heute viel bessere Technologien bereit als noch vor 15 Jahren. Gleichzeitig braucht es eine «Partitur der technischen Systeme». Wärmepumpen, Lüftungen und Heizungen müssen besser vernetzt werden und Sensoren, verteilt im ganzen Haus, müssen dafür sorgen, dass die Geräte nur dann laufen, wenn sie wirklich benötigt werden. Anstatt riesiger Lüftungsanlagen im Keller, haben wir heute kleine dezentralisierte Systeme. Die Lüftung in einem Raum geht dann zum Beispiel erst an, wenn ein Kohlendioxidsensor registriert, dass jemand eintritt.

Das tönt nach sehr viel High Tech.
Nein, High Tech kommt nur dort zum Einsatz, wo es Sinn macht. Aber lieber ein einfacher Sonnenschutz an der Fassade als ein aufwendiges Regulierungssystem drinnen. Und um Wärme über Erdsonden im Boden zu speichern und diese anschliessend über Wärmepumpen wieder zu nutzen, braucht es vor allem eine gute Vernetzung, aber keine High-Tech-Anlage.

Technische Regulierungssysteme und Wärmepumpen brauchen zusätzlichen Strom. Obwohl Vertreter aus Politik und Wirtschaft vor einer Stromlücke warnen, klammert die Strategie neben fossilen Energieträgern auch die Kernenergie explizit aus. Weshalb?
Das Abfallproblem bei der Kernspaltung ist nach wie vor nicht gelöst. Abfall ist eine Emission. Atomare Energie ist entsprechend nicht mit einer emissionsfreien Architektur vereinbar.

Und Sie sehen keinen Widerspruch darin, dass an der ETH auch an Kernenergie geforscht wird?
Nein, an unserer Hochschule haben unterschiedliche Meinungen Platz.

Gehen die Forderungen der «Towards Zero-Emission Architecture» nicht weit über die Kompetenzen eines Architekten hinaus?
An der ETH denken wir Architektur immer auch in einem städtebaulichen Kontext. Dabei spielen Machtverhältnisse, Interessenskonflikte, Geldflüsse und die Partizipation der Bewohner eine entscheidende Rolle. Insofern ist jedes neue Gebäude auch ein politisches Statement. «Towards Zero-Emission Architecture» spielt deshalb klar auch ins Politische und Ökonomische hinein.

Inwiefern bettet sich Ihr Vorstoss in einen grösseren internationalen Trend ein?
Unser Ansatz ist einzigartig und «very swiss». Die Architektur an der ETH hat anders als in vielen Hochschulen in Amerika den Bezug zur Praxis nie verloren. Forschung und Lehre orientieren sich bei uns stark an der Praxis. Zudem steht an einer technischen Hochschule wie der ETH sehr viel technisches Know-how im eigenen Haus bereit, das für Nachhaltigkeit im Bau notwendig ist. Die Techniker arbeiten mit den Architekten und Städtebauern eng zusammen. Hinzu kommt, dass wir in der Schweiz in der Diskussion rund um Nachhaltigkeit schon viel weiter sind als andernorts.

Insofern stellt sich die Frage: Selbst wenn Politiker und Architekten in der Schweiz die «Towards Zero-Emission Architecture» unterstützen würden, wäre das global betrachtet nicht nur ein Tropfen auf den heissen Stein?
Wir entlassen jährlich rund 250 Studenten mit einer Ausbildung, in der Ölheizungen gar nicht mehr vorkommen. Viele davon gehen später ins Ausland, tragen unsere Ideen dort in die Praxis und betten sie in neue Kontexte ein. So entsteht bottom-up langfristig auch in Lateinamerika oder Afrika ein Verständnis für nachhaltiges Bauen.

Towards Zero-Emission Architecture

Die Professoren des Departements Architektur fordern in einem Positionspapier einen Paradigmenwechsel in der Architektur: Weg vom Energiesparen und hin zur Emissionsfreiheit. Die Null-Emissions-Architektur bezieht sich auf den gesamten Lebenszyklus der Gebäude – von der Erstellung über den Betrieb bis zur Entsorgung. Die Grundsätze lassen sich auf neue Gebäude ebenso anwenden wie auf die Sanierung des bestehenden Gebäudeparks. Wichtige Komponenten sind dabei ein Wärmespeichersystem in der Form von Erdsonden, Solartechnologie und Wärmepumpen. Gegenüber herkömmlichen Bauweisen sind durch einen verminderten Materialeinsatz und die Nutzung von selbstproduzierter Wärme wesentliche Einsparungen möglich. Der Campus «Science City» wird grösstenteils nach den Vorgaben der «Towards Zero-Emission Architecture» gebaut und saniert. Nach denselben Grundsätzen sind ein neues Gebäude für das Institut für Technologie auf dem Campus «Science City» und ein Neubau im «Future Cities Laboratory» in Singapur geplant.