Veröffentlicht: 28.10.10
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Das Geheimnis des Glücklichseins

Der Schweizer Geologe Augusto Gansser wird Hundert. Trotz körperlicher Gebrechen ist sein Geist wach und die Augen vermögen bei seinen Erzählungen zu strahlen, als würde er alles noch einmal erleben.

Simone Ulmer
Der Geologe und Himalaja-Experte Augusto Gansser wird heute hundert Jahre alt. (Bild: Vera Markus)
Der Geologe und Himalaja-Experte Augusto Gansser wird heute hundert Jahre alt. (Bild: Vera Markus) (Grossbild)

Umgeben von Erinnerungen – Andenken an Expeditionen und Reisen – sitzt der Geologe Augusto Gansser in seinem Sessel in seinem Haus bei Lugano. «Erinnerungen sind das wichtigste im Leben, besonders jetzt, da ich ziemlich alt geworden bin», sagt er ernst und lächelnd zugleich. Gansser zählt mit seinen hundert Jahren zu jenen Geologen, die für ihren Beruf noch die Welt bereisten, auf dem Weg von einem Abenteuer ins Nächste. Zu einer Zeit, als es noch Neues zu entdecken gab und viele schwer zugänglichen Gebieten noch weisse Flecken auf den geologischen Karten der Erde waren.

Das Zimmer, in dem Gansser sitzt, ist voll von Zeugen seiner Reisen. Über ihm hängt grossformatig ein Bild des heiligen Bergs Kailas, mit dem Gansser eine ganz besondere Geschichte verbindet: Er hatte ihn auf seiner Himalaya-Expedition 1936 umrundet, verkleidet als tibetischer Pilger, da sonst keine Möglichkeit bestanden hätte, das «verbotene» Land Tibet zu erkunden. Hierfür verliess er auf eigene Verantwortung die Gruppe des Schweizer Geologen Arnold Heim, die zu einer Expedition in den Himalaya aufgebrochen war und acht Monate das Grenzgebiet von Indien und Tibet zu Fuss erforschte.

Der Himalaya-Experte

Der Geologe hatte für seine «eigenwillige» Tibet-Exkursion sein Leben riskiert, doch was er dafür zu sehen bekam, war es ihm wert gewesen. Er entdeckte südlich des Kailas sogenannte Ophiolite, den Boden des einstigen Tethys-Ozeans, der Indien und Asien vor Millionen von Jahren voneinander trennte und der beim Aufeinandertreffen der beiden Krustenplatten angehoben wurde. Damals war die Theorie der Kontinentalverschiebung zwar bereits postuliert, aber noch lange nicht akzeptiert oder gar bewiesen. Diese Tatsache verführte vermutlich auch Gansser vorerst zu einer Fehlinterpretation der Gesteine. Als er aber in den 1960er Jahren die von ihm entdeckte Nahtstelle in den richtigen geologischen Kontext stellte, war er einer der ersten in der Schweiz, die mit dem Konzept der Plattentektonik arbeiteten, sagt Jean-Pierre Burg, Professor am Geologischen Institut der ETH Zürich. Ganssers Kenntnisse der Himalaja-Region sind umfassend und der Wissenschaftler entdeckte die tektonischen Hauptstörungen des grössten Gebirges der Welt. «Er hat im Himalaya grosse Pionierarbeit geleistet, die vermutlich für immer Bestand haben wird», betont Burg.

Noch heute schwärmt Gansser von der Geologie des heiligen Berges: «Der Kailas ist einzigartig, da er vollständig aus horizontalen Schichten besteht und rundum alle anderen Schichten steil stehen» sagt Gansser. 5000 Meter seien die Schichten des Kailas angehoben worden, ohne sich zu verstellen. «Sämtliche grossen Flüsse der Region entspringen dort.»

Beim Erzählen lässt sich Gansser Zeit und er macht immer wieder kleine Pausen, aber seine blauen Augen leuchten ganz besonders, wenn er von Tibet erzählt. Die besonderen Augen sind es vermutlich auch gewesen, die den vermeintlichen tibetischen Pilger zwar einerseits enttarnten, ihn andererseits aber schützten. Schelmisch lächelnd erzählt Gansser nämlich, dass ihn die Lamas in ihren Klöstern beherbergt hätten, obwohl sie an seinen blauen Augen gesehen hätten, dass er kein echter Mönch sei. Aber vermutlich waren es gerade diese besonderen Augen, die ihm die Türen der Klöster öffneten.

Das Öl-Desaster

Nach seiner Himalaja-Expedition heiratete Gansser die Tessinerin Linda Biaggi, genannt Toti, die ihn fortan fast auf allen seinen Auslandsaufenthalten und Exkursionen begleitete. «Der Tessiner Dialekt war im Ausland unsere Geheimsprache», gesteht Gansser verschmitzt. Das junge Paar ging für die Ölfirma Shell nach Kolumbien, später auf die Insel Trinidad, wo Gansser jeweils geologische Karten erstellte. Im Auftrag des Schah von Persien suchte und entdeckte er in den 1950ern neue Ölvorkommen. Eine seiner Entdeckungen führte das Land vorübergehend jedoch in eine Umweltkatastrophe. Ähnlich wie im Golf von Mexiko war es bei der Bohrung in den Ölspeichern zu einem sogenannten Blowout gekommen, nachdem der Blowout Preventer dem enormen Druck nicht stand hielt. Drei Wochen lang wurden täglich etwa 13 Millionen Liter Öl in einer enormen Ölfontäne zu Tage gefördert, die einen riesigen Ölsee entstehen liessen.

Der Geologe und seine Familie wurden erst 1958 mit dem Ruf zum Professor an die ETH und Universität Zürich in der Schweiz sesshaft. Die Professur habe er nur unter der Bedingung angenommen, dass er weiterhin reisen dürfe, betont Gansser. Bei diesen Reisen hielt er sich erneut mehrfach im Himalaja-Gebiet, insbesondere in Bhutan, auf. Gansser war der erste, der Bhutan geologisch kartierte. Auch ein Buch hat er über das Land publiziert. Das Buch und die Karte gelten heute noch als Referenzwerke, betont Burg.

Gansser ist das Land mit seinen sympathischen Menschen in eindrücklicher Erinnerung geblieben: «Ich war mit dem König befreundet und wir reisten auf Elefanten, wodurch andere Tiere keine Angst vor uns hatten: In einem Fluss direkt vor uns lief ein Tiger an uns vorbei.»

Die Ruhe und Zufriedenheit, die der Hundertjährige ausstrahlt, mögen darin begründet liegen, dass er seine Leidenschaften zu seinem Beruf gemacht hat: Die Kristalle, das Zeichnen und das Bergsteigen. Das Bergsteigen und Klettern habe er früh im Tessin, in den «Denti della Vecchia» gelernt, wo er sich den engen Kanal des Sasso Grande hinauf gestemmt habe. Als er mit seiner Familie Ferien in Andermatt machte, wo gerade die Furkabahn gebaut wurde, entdeckte er seine Liebe zur Geologie. «Als ich auf der Trasse spazierte, fand ich einen grossen Kristall», erzählt Gansser – damit habe alles begonnen. In der Glasvitrine gegenüber seinem Sessel liegt der Kristall heute noch, umgeben von weiteren Funden, die er im Laufe seiner Expeditionen machte. Besonders stolz ist er auf zwei wunderschöne Smaragd-Kristalle, die aus einem kleinen Gesteinsbrocken ragen, den der Geologe während seiner Zeit in Kolumbien fand. Ungeschliffene Edelsteine durften nicht ausser Land gebracht werden und so hat Gansser den Stein kurzerhand in die Windeln seines Sohns Luca gepackt. «Luca sagt, dass er heute seine Rückenschmerzen bestimmt davon hätte», lacht er.

Akrobatischer Zeichner

Papier und Bleistift waren neben dem Geologenhammer Ganssers zentrale Werkzeuge. «Durch Zeichnen kommt man viel enger in Kontakt zu dem, was man zeichnet», betont Gansser. Es wird erzählt, dass Gansser in den Vorlesungen mit beiden Händen gleichzeitig an die Tafel zeichnete – mit einer Hand fantastische bunte geologische Profile, die er mit der anderen beschriftete. Auch seine Studenten liess Gansser festhalten, was sie im Gelände beobachteten. Er erinnert sich, wie er den angehenden Geologen auf dem Splügenpass eine besondere geologische Gegebenheit erklärte. Um sicher zu gehen, dass sie alles verstanden hatten, liess er die Studenten die Formation zeichnen - «ein Desaster», lacht Gansser verschmitzt in sich hinein.

Der Hundertjährige kann heute kaum noch gehen, hört schlecht und ist auf einem Auge fast blind. Aber ihm bleiben die Erinnerungen an ein abenteuerreiches und erfülltes Leben – seine Augen sind Zeuge davon.

Vater des Himalaja

Augusto Gansser wurde 1910 in Mailand als Sohn eines Schweizer Vaters und einer deutschen Mutter geboren. Er studierte an der Universität Zürich Geologie. 1934 nahm er unter Leitung des dänischen Forschers Lauge Koch an einer Expedition nach Ostgrönland teil, 1936 promovierte er, ehe er 1936 mit Arnold Heim eine Expedition in den Himalaja unternahm. Entgegen seiner Überzeugung, dass ein Geologe Junggeselle zu sein hat, heiratete er 1937 die Tessinerin Linda Biaggi. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor. Das Paar war von 1938 bis 1946 für Shell in Kolumbien, anschliessend bis 1949 in Trinidad. Von 1950 bis 1957 war Gansser Chefgeologe der staatlichen iranischen Ölgesellschaft. 1958 folgt Gansser dem Ruf als Professor in die Schweiz. Der Geologe erhielt für seine Arbeit zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen. Unter anderen wurde er von der Universität Peshawar, Pakistan, mit dem Titel «Baba Himalaya» (Vater des Himalajas) geehrt.

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