Veröffentlicht: 15.06.10
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Buchenwaldkinder: Humanität mit Hindernissen

Kurz nach Ende des 2. Weltkriegs sollten 2000 Kinder, unter anderem aus dem Konzentrationslager Buchenwald, vorübergehend Aufnahme in der Schweiz finden. Die vom Archiv für Zeitgeschichte an der ETH publizierte Studie von Madeleine Lerf analysiert die Hilfsaktion zwischen humanitärem Engagement, politischem Kalkül und individueller Erfahrung.

Martina Märki
Jugendliche der Buchenwaldgruppe im Heim Felsenegg während eines Ausflugs. (Bild: Nachlass Alfred Ledermann, Archiv für Zeitgeschichte / ETH Zürich)
Jugendliche der Buchenwaldgruppe im Heim Felsenegg während eines Ausflugs. (Bild: Nachlass Alfred Ledermann, Archiv für Zeitgeschichte / ETH Zürich) (Grossbild)

«Im Juni 1945, nur wenige Wochen nach Kriegsende, kamen 374 junge Menschen aus dem befreiten Konzentrationslager Buchenwald in die Schweiz. Ihnen sollte ein sechsmonatiger «Erholungsaufenthalt» ermöglicht werden. » Hinter diesen lapidaren Einleitungssätzen der Studie stecken nicht nur unvorstellbare Einzelschicksale, sondern auch das komplexe Bild einer humanitären Hilfsaktion, das über den Einzelfall hinaus dem Leser immer wieder Anlass gibt, nicht nur die Flüchtlingspolitik von damals kritisch zu betrachten. Sichtweisen aus jener Zeit sind mitunter auch heutigen Fragen im Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden erschreckend nahe.

In ihrer Studie zu den sogenannten Buchenwaldkindern, die kürzlich in der Veröffentlichungsreihe des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich erschienen ist, legt die Autorin Madeleine Lerf den Schwerpunkt weniger auf die Einzelschicksale, als vielmehr auf strukturelle, ideelle und organisatorische Fragen der Hilfsaktion. Was so formuliert eher trocken klingt, erweist sich bei der Lektüre der Studie als äusserst faszinierendes Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen, die die Autorin gekonnt analysiert und gegeneinanderstellt.

Kinder, die keine waren

Hilfsaktionen in Form der humanitären Kinderhilfe hatten in der Schweiz bereits eine längere Tradition, als bei Kriegsende das vom Bundesrat initiierte Hilfswerk «Schweizer Spende» den Alliierten anbot, 2000 Kinder aus Konzentrationslagern zur Erholung aufzunehmen. Gedacht war an einen vorübergehenden Erholungsaufenthalt von sechs Monaten und an Kinder im Alter von bis zu maximal zwölf Jahren. Die Realität sah anders aus: Als die Beauftragte des Hilfswerks am 15. Juni 1945 im Konzentrationslager Buchenwald eintraf, musste sie feststellen, dass mehrheitlich junge Erwachsene auf sie warteten. Kinder gehörten zu den Gruppen, die in den Konzentrationslagern kaum Überlebenschancen gehabt hatten. Weder die ursprüngliche Idee, Kinder zu holen, noch die modifizierte Altersbegrenzung auf 16 Jahre liess sich in die Praxis umsetzen. Die jungen Erwachsenen in Buchenwald setzten verständlicherweise alles daran, in die Gruppe derjenigen, denen geholfen werden sollte, aufgenommen zu werden. Als schliesslich am 23. Juni 1945 ein Zug mit 350 ehemaligen Buchenwaldinsassen in Basel eintraf, die meisten jüdischer Herkunft, waren mehr als die Hälfte älter als 17 Jahre. Die Organisatoren der Hilfsaktion waren darauf so gut wie nicht vorbereitet.

In den Mühlen der Interessen

Allein schon dieser Start der Hilfsaktion lässt Ordnungssinn der Vertreter der Hilfsaktion und Realität in einer Art und Weise aufeinanderprallen, bei der einem beim Lesen der Atem stockt. Das weitere Tauziehen um den Verbleib, die Unterbringung und Betreuung der Flüchtlinge zwischen verschiedenen politischen Institutionen und Hilfswerken nimmt bei allem guten Willen immer wieder kafkaeske Formen an. Schon die Abstimmung der jüdischen und nichtjüdischen Hilfswerke untereinander wäre schwierig genug gewesen. Bestimmungen von Behörden wie der Fremdenpolizei und Interessen der Schweizer Bundespolitik machten die Situation teilweise vollends unübersichtlich. Und was als Kurzaufenthalt gedacht war, zog sich schliesslich für viele Betroffene über Jahre hin – Jahre mit wechselnden Unterbringungen, beschränkten Ausbildungsmöglichkeiten und ungewisser Zukunft.

Blick aufs Durchgangsland Schweiz

Auch wenn der Aufenthalt in der Schweiz wesentlich länger dauerte als ursprünglich geplant, so war niemals die Rede davon, die Gruppe aus Buchenwald ganz in der Schweiz aufzunehmen. Das «Transmigrationsprinzip», das gegenüber den vom Nationalsozialismus Verfolgten die Politik der Schweiz von Anfang bestimmt hatte, wurde auch nach dem Krieg nicht in Frage gestellt. Auch an der Hilfsaktion «Buchenwaldkinder» beteiligte jüdische Hilfsorganisationen wirkten eher darauf hin, die jungen Leute für eine Zukunft im zukünftigen Staat Israel zu gewinnen – nicht immer zur Begeisterung der Betroffenen. Die meisten der Buchenwaldgruppe kehrten jedoch nicht in ihre Ursprungsländer zurück. Gut 40 Prozent reisten schliesslich nach Palästina aus, weitere in die USA und nach Australien. Ungefähr 30 der Jugendlichen blieben schliesslich doch in der Schweiz.

Die Studie von Madeleine Lerf umfasst die Jahre 1945 bis 1950. Die Flüchtlingspolitik der Schweiz vor und während des 2. Weltkriegs war bereits Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Die Forschung hat sich bisher aber noch nicht so intensiv mit der unmittelbaren Nachkriegszeit befasst. Hier schliesst die Studie eine Lücke, zumal auch die bisherigen Publikationen zur Hilfsaktion «Buchenwaldkinder» vorwiegend autobiografisch geprägt waren. Der Autorin der vorliegenden Studie standen nicht nur zahlreiche Materialien im Archiv für Zeitgeschichte zur Verfügung, sondern sie führte auch Interviews mit sieben Zeitzeugen. In der Kombination von umfangreichem Archivmaterial und Zeitzeugenberichten liegt der Reiz der Studie.

Madeleine Lerf: «Buchenwaldkinder“ – eine Schweizer Hilfsaktion

Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte des Instituts für Geschichte der ETH Zürich, Band 5. Chronos Verlag, Zürich 2010.
ETH Life verlost drei Exemplare des Buches. Bitte senden Sie bis zum 22. Juni eine E-Mail mit dem Stichwort «Buchenwaldkinder» an ethlife@hk.ethz.ch.
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