Veröffentlicht: 08.06.10
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Geologische Familien-Semantik

Vergangenen Samstag, 5. Juni 2010, wurde Andrea Westermann vom Institut für Geschichte/Technikgeschichte der ETH Zürich mit dem «Prix Jubilé» ausgezeichnet.

Simone Ulmer
Andrea Westermann wurde mit dem «Prix Jubilé» ausgezeichnet. (Bild: Simone Ulmer / ETH Zürich)
Andrea Westermann wurde mit dem «Prix Jubilé» ausgezeichnet. (Bild: Simone Ulmer / ETH Zürich) (Grossbild)

Andrea Westermann erhielt den «Prix Jubilé» für einen wissenschaftlichen Artikel, in dem sie sich den ersten geologischen Arbeiten der Schweizer Geologen Arnold Escher und Albert Heim über die Glarner Hauptüberschiebung widmet, die seit 2008 Unesco Weltnaturerbe ist. Escher und Heim suchten nach Erklärungen für das Phänomen, bevor die grundlegenden Mechanismen, die zu einer Deckenüberschiebung führen, bekannt waren. Westermann beleuchtet das wissenschaftliche Schaffen dieser frühen Forscher im Vorfeld eines Paradigmenwechsels in der Geologie, dem Kontinentaldrift. In ihrer Studie legt sie ein besonderes Augenmerk auf die gesellschaftlichen und sozialen Hintergründe der Hauptdarsteller.

Frau Westermann, Sie studierten neuere und neueste Geschichte sowie deutsche und spanische Literaturwissenschaften. Heute gilt Ihr Interesse der Wissenschafts- und Technikgeschichte, insbesondere der Geologie. Wie kamen Sie dazu?
Ich bin nach Zürich gekommen, um an der Aufarbeitung der Geschichte der ETH für die 150 Jahrfeier 2005 mitzuwirken. Bei unseren Recherchen habe ich festgestellt, dass im ETH-Archiv viele geologische Nachlässe liegen. Als ich mir die näher angeschaut habe, hat mich das sofort sehr angesprochen. Die Schriftwechsel der Geologen, ihre Exzerpte, Manuskripte und Notizen zeigten mir, dass die Fragestellungen der geologischen Forschung im 19. Jahrhundert auch für Nicht-Geologen zugänglich sind. Die Geologen waren im 19. Jahrhundert dabei, die Erdgeschichte zu schreiben. Mir fiel ausserdem auf, dass die Geschichte der deutschsprachigen Geologie noch kaum erforscht ist.

Wie sind Sie zu dem speziellen Artikel-Thema gekommen, für das Sie nun ausgezeichnet wurden?
Geologie-Geschichte wird häufig entlang wissenschaftlicher Kontroversen geschrieben. Eine dieser Kontroversen war der Streit über die Existenz der von Albert Heim so genannten «Glarner Doppelfalte». Die Glarner Alpen waren das Forschungsterrain der Zürcher Geologen, deren Nachlässe ich in erster Linie zur Verfügung hatte.

Was war für Sie besonders spannend?
Die Geschichte der Glarner Doppelfalten-Kontroverse wurde schon öfter erzählt. Aber als Sozialhistorikerin wurde ich hellhörig bei der Familiensemantik, die diese Auseinandersetzung und die Geologie allgemein stark prägte. Die Geologen des 19. Jahrhunderts waren Feldforscher, und ein bestimmtes Territorium war praktisch Eigentum eines Geologen und wurde ihm zur Erforschung überlassen. Das Gebiet wurde sogar «weitervererbt» an Sohn oder Schüler. Die Familienlogik findet sich aber nicht nur auf organisatorischer, sondern auch auf konzeptioneller Ebene. Beispielsweise sprechen die Geologen bei erratischen Blöcken von «Findlingen», oder Hans Conrad Escher, der Vater von Arnold Escher, sprach um 1800 vom geognostischen «Verwandtsein» von Gesteinsschichten und davon, dass die Mineralogie ein «verwaister» Zweig der Naturgeschichte sei. Ich stellte mir irgendwann die Frage, ob die familienförmige Organisation der Geologie und das auffällige Denken in Genealogien eine bestimmte Funktion für die geologische Forschung selbst hatte.

Und, hatte sie das?
Ich kam zum Schluss, dass in diesem Fall soziale Ordnung und Verfahren der Wissensvalidierung aufeinander bezogen werden können. Ich interpretiere das so, dass geologisches Wissen über die genealogische Ordnung validiert wurde. Es ging dabei um wissenschaftliche Autorität: Wer bestimmt, was richtig ist? Wer hat das Recht, lokal erhobene empirische Befunde in den Glarner Alpen zu verallgemeinern, etwa auf universell gültige Mechanismen der Gebirgsbildung?

Wie äusserte sich das?
Die territorial verankerte Stratigraphie des 19. Jahrhundert löste diese Frage über die Institution der Familie. Genealogische Argumentationsmuster waren Transmissionsriemen für die Verallgemeinerung. Als sich dies im Übergang von stratigraphischer zu tektonischer Forschung änderte, wurde diese Logik nochmals besonders sichtbar. Das Paradebeispiel dafür ist die Kontroverse um die «Glarner Doppelfalte». Hier wurde die traditionelle Form der Wissensvalidierung über Familienautorität, wie sie Albert Heim einklagte, vehement in Frage gestellt.

Wie Ihrem Aufsatz zu entnehmen ist, scheint an der Beziehung Arnold Escher/Albert Heim speziell zu sein, dass Heim sozusagen in die Rolle eines nicht vorhandenen Sohnes von Escher schlüpfte.
Ja, denn Escher war kinderlos geblieben. Man könnte das einfach eitel finden und vernachlässigen, dass sich Heim eine neue Familiengeschichte zusammen fantasierte mit seinem verehrten Lehrer als Vater. Aber, so mein Verdacht, es könnte auch strukturelle Erklärungen dafür geben. Heim trieb das Spiel ja sehr weit: Indem er seinen Sohn nach Arnold Escher auch Arnold taufte, versuchte er diese imaginierte Genealogie zu «vernatürlichen», sie zu festigen und über die Gegenwart hinaus zu sichern.

Was ist mit Arnold Escher?
Arnold Escher ist ein wichtiges Glied in der Genealogie, die von Hans Conrad Escher über Arnold Escher und Albert Heim bis Arnold Heim reicht. Denn er hat das Familienarchiv Escher eingerichtet und strukturiert, das in meiner Geschichte der Zürcher Geologie nicht nur als Quellensammlung wichtig ist, sondern auch als eigene Institution eine zentrale Rolle spielt.

Welche Bedeutung hat dieses Archiv?
Im Familienarchiv Escher befinden sich sowohl wissenschaftliche wie private Aufzeichnungen. Schon der Vater Hans Conrad war oft in Glarus unterwegs. Von Hans Conrad stammt etwa eine berühmte Zeichnung der Glarner Anomalie aus dem Jahr 1812. Arnold Escher hat seine eigenen Feldforschungen immer wieder mit den Aufzeichnungen und Skizzen seines Vaters abgeglichen und ergänzt. Er hat viele Arbeiten seines Vaters erstmals veröffentlicht und bekannt gemacht. Er sicherte und erweiterte den wissenschaftlichen Bestand und ordnete ihn systematisch um. Damit schuf er die materielle Grundlage, auf die Heim in seinen Forschungsarbeiten über die Glarner Alpen zurückgreifen konnte.

Welche Rolle nahm Heim nach Eschers Tod 1872 ein?
Heim übernahm Eschers Doppelprofessur für Geologie an der Universität und ETH Zürich und wurde damit auch Direktor der geologisch-paläontologischen Sammlungen. Arnold Escher hatte seinen Nachlass der Stadt Zürich vermacht, die ihn der geologischen Sammlung übergab. Somit konnte sich Heim als Sammlungsdirektor einbilden, dass er wirklich Eschers direkter Erbe sei. Heim kontrollierte entsprechend den Zugang zum Escher-Bestand, der übrigens nicht nur aus Papier, sondern auch aus tausenden von Gesteinsproben bestand. Nur er hatte einen Schlüssel zum so genannten «Escher-Schränkchen». Dass zunächst nur bestimmte Leute, die Familienmitglieder, Zugriff auf die gesammelten Dokumente haben, macht gerade ein Familienarchiv aus. Das alles waren für mich so auffällige, immer wieder ähnliche Puzzleteile, dass ich dachte, dass das kein Zufall mehr sein kann.

Wie empfanden Sie die Protagonisten?
Umso tiefer ich in die persönlichen Geschichten eingetaucht bin, desto vielfältiger wurden meine Eindrücke. Bei Albert Heim beispielsweise fand ich anfangs alles ungemein spannend und bewundernswert; er war für mich ein Faktotum: Wissenschaftler, Lebensreformer, Alpenclubmitglied, engagierter Zürcher Bürger, Hundezüchter, Kindergartengründer - ein sprühender «Macher». Aber Menschen haben natürlich viele Seiten. Heim war sehr stur, dominant und rechthaberisch. Auch finden sich bei ihm familiäre Abgründe. Das sind alles wichtige Aspekte für ein historisches Gesamtbild.

Was wird Ihr nächstes Thema sein?
Ich plane ein Buch über die Entstehung der globalen Tektonik um 1900. Für mich ist diese schweizerische Fallstudie, die in konzentrierter Form in meinem Aufsatz zur Glarner Doppelfalte steckt, der erste Teil dieser grösseren Geschichte. Den zweiten Teil möchte ich mit dem Wiener Geologieprofessor Eduard Suess (1831-1914) bestreiten, der auch als Alpenforscher anfing, aber immer schon einen anderen Blick auf die Alpen hatte und versuchte, sie in die globale Erdkrusten-Struktur einzuordnen. Seine Studie «Das Antlitz der Erde» galt um 1900 als bahnbrechende Arbeit der modernen globalen Tektonik. Ich möchte nun verstehen, warum Heim und Suess so unterschiedlich arbeiteten. Der Paradigmenwechsel, der Übergang von der Stratigraphie zur globalen Tektonik, lässt sich über die beiden Forscher und ihre Arbeitsweisen vermutlich schön beschreiben, bis hin zur Theorie des Kontinentaldrift von Alfred Wegener.

Literaturhinweis:

Westermann, A: Inherited Territories: The Glarus Alps Knowledge Validation and the Genealogical Organization of Nineteenth-Century Swiss Alpine Geognosy, Science in Context (2009), 22, 439-461, doi: 10.1017/S0269889709990081, oder e-collection, ETH-Bibliothek.

Der «Prix Jubilé» ist dem akademischen Nachwuchs der Schweiz gewidmet und wurde anlässlich des 50. Geburtstages der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) ins Leben gerufen. Er wurde 1996 erstmals verliehen. Ausgezeichnet wird mit dem Preis eine junge Forscherin oder ein junger Forscher der Geistes- und Sozialwissenschaften für die besondere Qualität eines Artikels, der in einer wissenschaftlichen Publikation veröffentlicht wurde. Der mit 10'000 Franken dotierte Preis wird alljährlich an der Jahresversammlung der SAGW verliehen. In diesem Jahr teilt sich Andrea Westermann den «Prix Jubilé» mit Thomas Schultz, der für seinen Artikel «Carving up the Internet: Jurisdiction, Legal Orders and the Private/Public International Law Surface» ausgezeichnet wird.

 
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