Geologische Familien-Semantik
Vergangenen Samstag, 5. Juni 2010, wurde Andrea Westermann vom Institut für Geschichte/Technikgeschichte der ETH Zürich mit dem «Prix Jubilé» ausgezeichnet.
Andrea Westermann erhielt den «Prix Jubilé» für einen wissenschaftlichen Artikel, in dem sie sich den ersten geologischen Arbeiten der Schweizer Geologen Arnold Escher und Albert Heim über die Glarner Hauptüberschiebung widmet, die seit 2008 Unesco Weltnaturerbe ist. Escher und Heim suchten nach Erklärungen für das Phänomen, bevor die grundlegenden Mechanismen, die zu einer Deckenüberschiebung führen, bekannt waren. Westermann beleuchtet das wissenschaftliche Schaffen dieser frühen Forscher im Vorfeld eines Paradigmenwechsels in der Geologie, dem Kontinentaldrift. In ihrer Studie legt sie ein besonderes Augenmerk auf die gesellschaftlichen und sozialen Hintergründe der Hauptdarsteller.
Frau Westermann,
Sie studierten neuere und neueste Geschichte sowie deutsche und spanische
Literaturwissenschaften. Heute gilt Ihr Interesse der Wissenschafts- und
Technikgeschichte, insbesondere der Geologie. Wie kamen Sie dazu?
Ich bin nach Zürich gekommen, um an der Aufarbeitung der
Geschichte der ETH für die 150 Jahrfeier 2005 mitzuwirken. Bei unseren
Recherchen habe ich festgestellt, dass im ETH-Archiv viele geologische
Nachlässe liegen. Als ich mir die näher angeschaut habe, hat mich das sofort
sehr angesprochen. Die Schriftwechsel der Geologen, ihre Exzerpte, Manuskripte
und Notizen zeigten mir, dass die Fragestellungen der geologischen Forschung im
19. Jahrhundert auch für Nicht-Geologen zugänglich sind. Die Geologen waren im
19. Jahrhundert dabei, die Erdgeschichte zu schreiben. Mir fiel ausserdem auf,
dass die Geschichte der deutschsprachigen Geologie noch kaum erforscht ist.
Wie sind Sie zu
dem speziellen Artikel-Thema gekommen, für das Sie nun ausgezeichnet wurden?
Geologie-Geschichte wird häufig entlang wissenschaftlicher
Kontroversen geschrieben. Eine dieser Kontroversen war der Streit über die
Existenz der von Albert Heim so genannten «Glarner Doppelfalte». Die Glarner
Alpen waren das Forschungsterrain der Zürcher Geologen, deren Nachlässe ich in
erster Linie zur Verfügung hatte.
Was war für Sie
besonders spannend?
Die Geschichte der Glarner Doppelfalten-Kontroverse wurde
schon öfter erzählt. Aber als Sozialhistorikerin wurde ich hellhörig bei der
Familiensemantik, die diese Auseinandersetzung und die Geologie allgemein stark
prägte. Die Geologen des 19. Jahrhunderts waren Feldforscher, und ein
bestimmtes Territorium war praktisch Eigentum eines Geologen und wurde ihm zur
Erforschung überlassen. Das Gebiet wurde sogar «weitervererbt» an Sohn oder Schüler.
Die Familienlogik findet sich aber nicht nur auf organisatorischer, sondern
auch auf konzeptioneller Ebene. Beispielsweise sprechen die Geologen bei
erratischen Blöcken von «Findlingen», oder Hans Conrad Escher, der Vater von
Arnold Escher, sprach um 1800 vom geognostischen «Verwandtsein» von
Gesteinsschichten und davon, dass die Mineralogie ein «verwaister» Zweig
der Naturgeschichte sei. Ich stellte mir irgendwann die Frage, ob die
familienförmige Organisation der Geologie und das auffällige Denken in Genealogien
eine bestimmte Funktion für die geologische Forschung selbst hatte.
Und, hatte sie
das?
Ich kam zum Schluss, dass in diesem Fall soziale Ordnung und
Verfahren der Wissensvalidierung aufeinander bezogen werden können. Ich
interpretiere das so, dass geologisches Wissen über die genealogische Ordnung
validiert wurde. Es ging dabei um wissenschaftliche Autorität: Wer bestimmt,
was richtig ist? Wer hat das Recht, lokal erhobene empirische Befunde in
den Glarner Alpen zu verallgemeinern, etwa auf universell gültige Mechanismen
der Gebirgsbildung?
Wie äusserte sich
das?
Die territorial verankerte Stratigraphie des 19. Jahrhundert
löste diese Frage über die Institution der Familie. Genealogische
Argumentationsmuster waren Transmissionsriemen für die Verallgemeinerung. Als
sich dies im Übergang von stratigraphischer zu tektonischer Forschung änderte,
wurde diese Logik nochmals besonders sichtbar. Das Paradebeispiel dafür ist die
Kontroverse um die «Glarner Doppelfalte». Hier wurde die traditionelle Form der
Wissensvalidierung über Familienautorität, wie sie Albert Heim einklagte,
vehement in Frage gestellt.
Wie Ihrem Aufsatz zu entnehmen ist, scheint an der Beziehung
Arnold Escher/Albert Heim speziell zu sein, dass Heim sozusagen in die Rolle
eines nicht vorhandenen Sohnes von Escher schlüpfte.
Ja, denn Escher war kinderlos geblieben. Man könnte das einfach eitel finden und
vernachlässigen, dass sich Heim eine neue Familiengeschichte zusammen fantasierte
mit seinem verehrten Lehrer als Vater. Aber, so mein Verdacht, es könnte auch
strukturelle Erklärungen dafür geben. Heim trieb das Spiel ja sehr weit: Indem
er seinen Sohn nach Arnold Escher auch Arnold taufte, versuchte er diese
imaginierte Genealogie zu «vernatürlichen», sie zu festigen und über die
Gegenwart hinaus zu sichern.
Was ist mit Arnold
Escher?
Arnold Escher ist ein wichtiges Glied in der Genealogie, die
von Hans Conrad Escher über Arnold Escher und Albert Heim bis Arnold Heim
reicht. Denn er hat das Familienarchiv Escher eingerichtet und strukturiert,
das in meiner Geschichte der Zürcher Geologie nicht nur als Quellensammlung
wichtig ist, sondern auch als eigene Institution eine zentrale Rolle spielt.
Welche Bedeutung
hat dieses Archiv?
Im Familienarchiv Escher befinden sich sowohl wissenschaftliche
wie private Aufzeichnungen. Schon der Vater Hans Conrad war oft in Glarus
unterwegs. Von Hans Conrad stammt etwa eine berühmte Zeichnung der Glarner
Anomalie aus dem Jahr 1812. Arnold Escher hat seine eigenen Feldforschungen
immer wieder mit den Aufzeichnungen und Skizzen seines Vaters abgeglichen und
ergänzt. Er hat viele Arbeiten seines Vaters erstmals veröffentlicht und
bekannt gemacht. Er sicherte und erweiterte den wissenschaftlichen Bestand und
ordnete ihn systematisch um. Damit schuf er die materielle Grundlage, auf die
Heim in seinen Forschungsarbeiten über die Glarner Alpen zurückgreifen konnte.
Welche Rolle nahm
Heim nach Eschers Tod 1872 ein?
Heim übernahm Eschers Doppelprofessur für Geologie an der
Universität und ETH Zürich und wurde damit auch Direktor der
geologisch-paläontologischen Sammlungen. Arnold Escher hatte seinen Nachlass
der Stadt Zürich vermacht, die ihn der geologischen Sammlung übergab. Somit
konnte sich Heim als Sammlungsdirektor einbilden, dass er wirklich Eschers
direkter Erbe sei. Heim kontrollierte entsprechend den Zugang zum
Escher-Bestand, der übrigens nicht nur aus Papier, sondern auch aus tausenden
von Gesteinsproben bestand. Nur er hatte einen Schlüssel zum so genannten
«Escher-Schränkchen». Dass zunächst nur bestimmte Leute, die
Familienmitglieder, Zugriff auf die gesammelten Dokumente haben, macht gerade
ein Familienarchiv aus. Das alles waren für mich so auffällige, immer wieder
ähnliche Puzzleteile, dass ich dachte, dass das kein Zufall mehr sein kann.
Wie empfanden Sie
die Protagonisten?
Umso tiefer ich in die persönlichen Geschichten eingetaucht
bin, desto vielfältiger wurden meine Eindrücke. Bei Albert Heim beispielsweise
fand ich anfangs alles ungemein spannend und bewundernswert; er war für mich ein
Faktotum: Wissenschaftler, Lebensreformer, Alpenclubmitglied, engagierter
Zürcher Bürger, Hundezüchter, Kindergartengründer - ein sprühender «Macher».
Aber Menschen haben natürlich viele Seiten. Heim war sehr stur, dominant und
rechthaberisch. Auch finden sich bei ihm familiäre Abgründe. Das sind alles
wichtige Aspekte für ein historisches Gesamtbild.
Was wird Ihr
nächstes Thema sein?
Ich plane ein Buch über die Entstehung der globalen Tektonik
um 1900. Für mich ist diese schweizerische Fallstudie, die in konzentrierter
Form in meinem Aufsatz zur Glarner Doppelfalte steckt, der erste Teil dieser
grösseren Geschichte. Den zweiten Teil möchte ich mit dem Wiener
Geologieprofessor Eduard Suess (1831-1914) bestreiten, der auch als
Alpenforscher anfing, aber immer schon einen anderen Blick auf die Alpen hatte
und versuchte, sie in die globale Erdkrusten-Struktur einzuordnen. Seine Studie
«Das Antlitz der Erde» galt um 1900 als bahnbrechende Arbeit der modernen
globalen Tektonik. Ich möchte nun verstehen, warum Heim und Suess so
unterschiedlich arbeiteten. Der Paradigmenwechsel, der Übergang von der
Stratigraphie zur globalen Tektonik, lässt sich über die beiden Forscher und
ihre Arbeitsweisen vermutlich schön beschreiben, bis hin zur Theorie des
Kontinentaldrift von Alfred Wegener.
Literaturhinweis:
Westermann, A: Inherited Territories: The Glarus Alps Knowledge Validation and the Genealogical Organization of Nineteenth-Century Swiss Alpine Geognosy, Science in Context (2009), 22, 439-461, doi: 10.1017/S0269889709990081, oder e-collection, ETH-Bibliothek.
Der «Prix Jubilé» ist dem akademischen Nachwuchs der Schweiz gewidmet und wurde anlässlich des 50. Geburtstages der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) ins Leben gerufen. Er wurde 1996 erstmals verliehen. Ausgezeichnet wird mit dem Preis eine junge Forscherin oder ein junger Forscher der Geistes- und Sozialwissenschaften für die besondere Qualität eines Artikels, der in einer wissenschaftlichen Publikation veröffentlicht wurde. Der mit 10'000 Franken dotierte Preis wird alljährlich an der Jahresversammlung der SAGW verliehen. In diesem Jahr teilt sich Andrea Westermann den «Prix Jubilé» mit Thomas Schultz, der für seinen Artikel «Carving up the Internet: Jurisdiction, Legal Orders and the Private/Public International Law Surface» ausgezeichnet wird.
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