Veröffentlicht: 08.06.10
Science

Alpen-Gletscherschmelze von Atlantikströmung beeinflusst?

Natürliche Klimaschwankungen, wie etwa Variationen in der Atlantikströmung, beeinflussten den Gletscherrückgang in den Alpen im vergangenen Jahrhundert vermutlich stärker als angenommen: Sie korrelieren mit Zeiten, in denen Gletscher besonders markant zurückgingen, aber auch anwuchsen. Das zeigt eine neue Studie zu Schweizer Gletschern.

Simone Ulmer
Die Entwicklung des Rhonegletschers von 1850 bis heute. (Foto: VAW-ETHZ)
Die Entwicklung des Rhonegletschers von 1850 bis heute. (Foto: VAW-ETHZ) (Grossbild)

Nirgends auf der Welt gibt es derartig umfassende und lange Beobachtungsreihen an Gletschern wie in der Schweiz. Seit über 100 Jahren werden die Schweizer Gletscher beobachtet, immer wieder neue topographische Karten erstellt, Luftbilder angefertigt und auf den Gletschern Messungen durchgeführt. Mit Hilfe dieser Erhebungen kann verifiziert werden, wie stark die Gletscher an Masse verlieren und durch die Klimaveränderung bisher beeinträchtigt wurden. Ausserdem liefern die Daten die Grundlage, um den künftigen Gletscherrückgang und die Folgen zu prognostizieren.

Folgen des Gletscherschwunds

In der Schweiz bestimmt das Schmelzwasser der Gletscher massgeblich die Energiegewinnung mit Wasserkraftwerken. Schmelzende Gletscher verändern das Landschaftsbild und könnten der Tourismusbranche schaden. Weltweit könnte aber der Meeresspiegel allein durch schmelzende Gebirgsgletscher um bis zu einem halben Meter ansteigen, sagt Matthias Huss, ehemaliger Doktorand des Gletscherforschers Martin Funk, Professor und Leiter der Abteilung für Glaziologie an der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) an der ETH Zürich.

Huss hat zusammen mit den ETH-Glaziologen Martin Funk und Andreas Bauder, sowie mit einer Kollegin aus Alaska, von dreissig Schweizer Alpengletschern unterschiedlichsten Ausmasses alle vorhandenen Daten zusammengetragen: Für jeden Gletscher liefern bis zu neun digitale Geländemodelle dabei Informationen, wie sich das Eisvolumen im Laufe der Zeit verändert hat. Dazu kommen mehr als 10‘000 Messungen, die während des letzten Jahrhunderts direkt auf den Gletschern durchgeführt wurden. All diese Daten sind die Basis für ein Modell, mit dem die Gletscherentwicklung in hoher zeitlicher und räumlicher Auflösung seit 1908 dargestellt werden kann.

Nicht auf alle Gletscher übertragbar

Die Resultate zeigen, dass die einzelnen Gletscher unterschiedlich schnell an Masse einbüssen. Martin Funk betont, dass die Ergebnisse überraschend sind und nicht klar ist, warum einzelne Gletscher schneller und andere langsamer Eis verlieren. Da sei noch Forschungsbedarf nötig. «Aus diesem Grund müssen wir vorsichtig sein, die Ergebnisse auf ein ganzes Gebiet oder gar auf andere Gletscherregionen der Welt zu übertragen», sagt Funk. Alle 30 untersuchten Gletscher gingen aber deutlich zurück und verloren während des Beobachtungszeitraums insgesamt etwa 30 Prozent ihrer Masse.

Die Wissenschaftler verglichen zudem die Zeitreihen des Gletscher-Massenverlustes mit der so genannten Atlantischen Multidekadischen Oszillation (AMO). Die AMO ist ein natürliches Phänomen, bei dem die Oberflächentemperatur des Atlantiks in einem Rhythmus von etwa 60 Jahren jeweils zu- und wieder abnimmt. Wie die Oszillation entstehe, sei noch nicht vollständig geklärt. Wahrscheinlich steht sie im Zusammenhang mit periodischen, natürlichen Veränderungen der Meeresströmungen, erklärt Huss.

Die Forscher schreiben, dass die Massenbilanz der Schweizer Gletscher mit der AMO korreliere. Es zeigte sich, dass die AMO die Perioden besonders markanter Gletscherrückgänge, wie etwa in den 1940ern und seit den 1980ern, so wie Stagnation oder Zuwachs in den 1910er und 1970er Jahren, erklären kann. Das heisst, dass zu Zeiten starken Gletscherschwunds die Temperaturen im Atlantik über dem Mittel lagen und umgekehrt. Derzeit beschleunigen die im Atlantik herrschenden Verhältnisse den Gletscherschwund, sagen die Forscher. Dies liesse darauf schliessen, dass bis zur Hälfte der jüngst beschleunigten Massenverluste durch natürliche Klimaschwankungen verursacht worden sein könnte.

Anthropogener Einfluss wird verstärkt

Der Glaziologe Matthias Huss, heute an der Universität Fribourg, warnt indes vor falschen Schlussfolgerungen: «Die Ursache für den in den vergangenen hundert Jahren tendenziell anhaltenden Gletscherschwund ist anthropogenen Ursprungs, durch den CO2-Anstieg in der Atmosphäre.» Die periodischen Abweichungen vom durchschnittlichen Massenverlust würden allerdings durch die verschiedenen natürlichen Ursachen verstärkt oder abgeschwächt werden.

Erst im vergangenen Dezember publizierte Huss zusammen mit den Professoren Funk und Ohmura von der ETH Zürich eine Studie, in der sie zeigten, dass in den 1940er Jahren die Gletscher schneller als heute schmolzen und die Gletscherschmelze durch langfristige Veränderungen in der Sonnenstrahlung beeinflusst wird. Diese Strahlungsveränderungen entsprechen dem so genannten «global dimming» und «global brightening» und stehen im Zusammenhang mit erhöhter, bzw. geringerer Aerosolverschmutzung der Atmosphäre (siehe ETH Life Artikel vom 14.12.2009).

Literaturhinweis:

Huss M, Hock R, Bauder A & Funk M: 100-year mass changes in the Swiss Alps linked to the Atlantic Multidecadal Oscillation, Geophysical Research Letters (2010), 37, L10501, doi:10.1029/2010GL042616