Veröffentlicht: 02.06.10
Kolumne

Vom Aberglauben

Michael Hagner
Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung. (Bild: zVg M. Hagner)
Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung. (Bild: zVg M. Hagner) (Grossbild)

Wissenschaftler haben naturgemäss ein wenig entspanntes Verhältnis zum Aberglauben. Nicht zu Unrecht halten sie sich zugute, Entscheidendes zur Trockenlegung der Sümpfe des Aberglaubens beigetragen zu haben. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts sprach der Soziologe Max Weber von einer Entzauberung der Welt, die mit deren unaufhaltsamer Rationalisierung einhergehe. Lassen wir es dahingestellt sein, wie weit wir 100 Jahre später mit der Rationalisierung gekommen sind und wenden uns dem Aberglauben zu.

Der Physiker Niels Bohr hat – kolportiert von seinem Kollegen Werner Heisenberg – folgende Anekdote zum Besten gegeben. In den Worten Heisenbergs klingt sie übrigens etwas anders als beim üblichen Partytalk oder bei Wikipedia: «In der Nähe unseres Ferienhauses in Tisvilde wohnt ein Mann, der hat über der Eingangstür seines Hauses ein Hufeisen angebracht, das nach einem alten Volksglauben Glück bringen soll. Als ein Bekannter ihn fragte: ‹Aber bist du denn so abergläubisch? Glaubst du wirklich, dass das Hufeisen dir Glück bringt?›, antwortete er: ‹Natürlich nicht; aber man sagt doch, dass es auch dann hilft, wenn man nicht daran glaubt.»

Das Schöne an dieser Geschichte ist die doppelte Buchführung, mit der Bohrs Nachbar arbeitet. Einerseits positioniert er sich als aufgeklärter Rationalist, der nicht an solche Hirngespinste glaubt. Andererseits gibt er zu bedenken, dass ein Fetisch objektiv wirken könne, so wie auch, sagen wir, die Gravitation wirkt, auch wenn wir nicht dran glauben. Aber – und das ist eine subtile Distanzierung – nicht er selbst vertritt diese Haltung, sondern er schreibt sie anderen zu, und zwar mit dem unbestimmten «man sagt» – alles andere als eine gesicherte Aussage: Was man so sagt, ist genau das, was wir besser nicht für bare Münze nehmen sollten.

Also: Rationale Ablehnung des Aberglaubens, Zweifel an der Glaubwürdigkeit derjenigen, die so etwas verbreiten, aber das Hufeisen hängt doch da. Eine schöne Paradoxie, die der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme so deutet: «Wir glauben nicht, aber handeln so, als glaubten wir, und glauben dadurch, ohne zu glauben. Seien wir also selbstironisch, unserer selbst nicht ganz gewiss, aber auch nicht ganz geheuer; weder ganz aufgeklärt noch ganz unaufgeklärt.» Jeder von uns fast Aufgeklärten, der, kerngesund und normal ernährt, zum Beispiel Vitaminpillen futtert oder homöopathische Mittel einnimmt, handelt mehr oder weniger nach diesem Prinzip – es sei denn, er glaubt wirklich dran.

Kürzlich hörte ich die folgende Anekdote, die vielleicht mehr mit Ondits als mit Aberglauben zu tun hat, aber mindestens ebenso lehrreich ist. Dass sie mich so sehr bezaubert hat, hängt sicherlich auch mit den Umständen zusammen: Ort des Geschehens war die Dachterrasse des Goethe-Instituts in Istanbul, mit dem allerschönsten Ausblick über die Dächer der Stadt, das Goldene Horn und den Bosporus; erzählt wurde die Geschichte von einer 98jährigen, hellwachen und selbstironischen Dame, die in den 1930er Jahren als eine der ersten Frauen Literaturwissenschaften an der Istanbuler Universität studiert hatte. Einen der Lehrstühle bekleidete damals der grosse Romanist Leo Spitzer, der 1933 von den Nazis aus Marburg verjagt worden war. Spitzer war ein strenger Lehrer, und als seine Studenten wieder einmal zu spät ins Seminar kamen und auch den zu besprechenden Text nicht vorbereitet hatten, fragte er verärgert, was denn los sei. Die Studenten antworteten, das liege an den schlimmen Südwinden, die ab und zu die Stadt heimsuchten. Man komme morgens nicht aus dem Bett, weil man unter Migräne leide, weswegen man auch den Text nicht habe vorbereiten können. Und ausserdem verkehrten die Fähren dann nicht, weil es zu gefährlich sei. Deswegen die Verspätung. Dem konsternierten Spitzer blieb nur zu erwidern, dass er von solchen Südwinden noch nie etwas gehört oder gemerkt habe.

Einige Monate später zogen die Winde wiederum durch die Stadt, doch die Studenten wollten sich vor ihrem Professor nicht noch einmal blamieren. Sie waren gut vorbereitet und pünktlich zum Unterrichtsbeginn im Seminarraum. Wer fehlte, war Spitzer. Nach einer halben Stunde endlich tauchte er auf, etwas ausser Atem und mit zerzauster Frisur. Die Studenten fragten ihn, was geschehen sei, denn bis dahin war er noch nie zu spät erschienen. Ach, sagte er, diese schlimmen Südwinde. Man wacht morgens auf und hat heftige Kopfschmerzen, kann sich nicht richtig auf sein Seminar vorbereiten, und die Fähren verkehren auch nicht.

Letzte Woche des Semesters. Als ich vor knapp sieben Jahren an die ETH kam, war ich zunächst bei Semesterende noch recht frisch und munter, aber diejenigen, die schon länger da waren, sagten mir, sie seien so erschöpft und ausgelaugt, dass sie dringend das Semesterende herbeisehnten. Nun ja, ich fühle mich gerade auch restlos erledigt. Gut, dass das Semester in drei Tagen vorbei ist.

Zum Autor

Michael Hagner ist seit 2003 Professor für Wissenschaftsforschung am Departement für Geistes- und Sozialwissenschaften (D-GESS). Von 1980 bis 1986 studierte er an der Freien Universität Berlin Medizin und Philosophie. 1987 erfolgte die Promotion zum Dr. med. Nach seinem Postdoc am Neurophysiologischen Institut der Freien Universität schlug er einen für Mediziner eher ungewöhnlichen Forschungsweg ein und befasste sich mehr und mehr mit Medizin- und Wissenschaftsgeschichte. In diesem Gebiet habilitierte er sich 1994 an der Georg-August Universität Göttingen, bevor er für acht Jahre am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte arbeitete. Für seine Forschungen, insbesondere zur Geschichte der Neurowissenschaften, wurde er mehrfach geehrt: Er war Fellow unter anderem am Collegium Helveticum der ETH Zürich, am Zentrum für Literatur und Kulturforschung in Berlin und an der Maison des Sciences de l'homme in Paris. 2008 erhielt er den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, deren Mitglied er seit 2009 ist.

 
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