Veröffentlicht: 07.04.10
Max Frisch-Archiv

Der späte Frisch

Schon vor seinem Erscheinen wurden die «Entwürfe zu einem dritten Tagebuch» von Max Frisch heiss diskutiert. Ein Bericht über ein wieder aufgetauchtes Typoskript und den Umgang mit Alter und Tod.

Thomas Langholz
Max Frisch in New York in den 1980er Jahren. (Bild: Max Frisch-Archiv/ ETH Zürich)
Max Frisch in New York in den 1980er Jahren. (Bild: Max Frisch-Archiv/ ETH Zürich) (Grossbild)

Seit vergangenem Samstag steht es in den Verkaufsregalen. Doch schon bevor das dritte Tagebuch seine ersten Leserinnen und Leser fand, schlugen die Wellen in den Feuilletons hoch. In kontroversen Debatten wurde über die Rechtmässigkeit einer Veröffentlichung diskutiert, da Max Frisch dieses Tagebuch nicht explizit zur Publikation freigegeben hatte.

Doch zuerst die Fakten: Das Tagebuch wurde 2009 in einem nicht zugänglichen Teil des Max Frisch-Archivs an der ETH Zürich entdeckt. 184 Seiten, die von Frisch auf Tonband diktiert von seiner Sekretärin Rosemarie Primault Anfang der 80er Jahre abgetippt wurden. Vermutlich im Jahr 2001 übergab sie das Typoskript Walter Obschlager, dem damaligen Archivar des Max-Frisch-Archivs. Die Aufzeichnungen tragen den Titel: Tagebuch 3; Ab Frühjahr 1982; Widmung: Für Alice; New York, November 1982. Max Frisch lebte zu dieser Zeit zusammen mit Alice Locke-Carey in New York. Seine damalige Lebensgefährtin hat Frisch als «Lynn» in Montauk verewigt. Die Beziehung zu ihr endet etwa im Frühjahr 1983, ungefähr zeitgleich mit dem abrupten Ende des dritten Tagebuchs.

Vorab veröffentlicht

Doch darf das Max Frisch-Archiv ein solches Werk zur Veröffentlichung freigeben, wenn der Autor es nicht ausdrücklich gestattet hat? Eine Frage, über die sich aus literaturwissenschaftlicher Sicht vortrefflich streiten lässt. So wichtig anscheinend, dass die Zeit in ihrem Schweiz-Teil die Sperrfrist des Suhrkamp-Verlages vom 19. April nicht einhielt und sich bereits einen Monat früher dezidiert ablehnend gegen eine Veröffentlichung äusserte. Wer Verlage kennt, weiss, dass mit Sperrfristen nicht zu spassen ist, da sie rechtlich bindend sind.

Einen gewichtigen Unterstützer fand die Wochenzeitung in Adolf Muschg. Sie druckte sein internes Schreiben an Peter von Matt, den Vorsitzenden des Stiftungsrats der Max Frisch-Stiftung und Herausgeber des Tagebuchs, in voller Länge ab. Er unterstellt von Matt, dass dieser dem Suhrkamp-Verlag Hand biete, um aus dem Werk Kapital zu schlagen. «Frisch bleibt Frisch, auch blind gebucht ein sicherer Wert; und auch ein schwaches Werk findet, jedenfalls eine Saison lang, starke oder wenigstens laute Fürsprecher. Es ist keinem Verlag, auch nicht Suhrkamp, zu verdenken, wenn er von dieser Form der Öffentlichkeit profitieren will.» Der so gescholtene Peter von Matt versteht die Aufregung nicht, wie er gegenüber der Sonntagszeitung sagt: «Ich habe ganz naiv gemeint, man würde mir auf die Schulter klopfen und sagen: Das ist ja toll, ein unbekannter Frisch, ich freue mich auf die Lektüre. Und jetzt kommt mir eine Welle von Säuerlichkeit, Missgunst und Frömmelei entgegen, die ich überhaupt nicht verstehen kann.»

Abstimmung im Stiftungsrat

Wichtig ist zu wissen, dass bei der Abstimmung im Stiftungsrat Muschg, über die Frage, ob das Werk veröffentlicht werden sollte, mit seiner Stimme gegenüber den anderen vier Mitgliedern unterlag. Da Frisch nur einen Teil redigiert hat, heisst der Titel auch «Entwürfe zu einem dritten Tagebuch.»

Max Frisch äussert sich über die Arbeit des Archivs in seinem Tagebuch: «Hätte ich übrigens nicht das Recht, das eine oder andere aus den schicken Rollschubladen zu nehmen und zu vernichten? Das Recht habe ich, aber nicht das Bedürfnis. Wenn ich zu Hause in einem Buch, das ich offenbar lang nicht zur Hand genommen habe, zufällig einen alten Brief finde oder ein vergilbtes Foto, so werde ich sentimental, ob positiv oder negativ, ach ja, Helen von San Francisco. Ob sie noch lebt? Wenn ich dasselbe in dem Archiv sehe, so geht es mich nichts mehr an.»

Tagebuch als literarische Form

Doch was steht im dritten Tagebuch?
Die Form des Tagebuchs ist bei Max Frisch kein Aufzählen von täglichen Erlebnissen. Durch die erzählenden Texte und gedanklichen Fragmente entsteht eine eigene literarische Form. Es ist auch ein geschichtliches Zeitdokument, das zeigt, wie stark die 1980er Jahre von der Reagan-Regierung geprägt waren, vom Kalten Krieg und dem drohenden Ende der Menschheit durch den Bombentod der Supermächte.

Da ist er wieder, der politische Max Frisch, der mit seinen klaren Sätzen die Lage analysiert und seine Meinung nicht verhehlt. «Wie dieses Amerika mich ankotzt.» Als Reisender zwischen den USA und der Schweiz erlebt er zeitgleich die unterschiedliche Einstellung zur Weltpolitik in Europa und den USA. Während die amerikanische Seite ein ungebrochenes Sendungsbewusstsein propagiert, herrscht in Europa die Angst vor dem Atomtod. Eine Diskussion mit einem Motel-Wirt wird für Frisch zum Sinnbild der amerikanischen Einstellung: «WAR, frage ich, WHERE? Die Frage macht ihm keine Mühe: OVER THERE, sagt er, IN EUROPE. Ich fragte: WHY IN EUROPE? Seine Antwort: BECAUSE THEY ARE USED TO HAVE WARS… Damals konnte man noch darüber lachen».

Alter und Tod

Neben Reflektionen zu aktuellen politischen Ereignissen, wie zum Beispiel dem Falkland-Krieg und dem Einmarsch Israels in den Libanon, ist es auch ein sehr persönliches Buch. Es zeigt den 71-jährigen Max Frisch, der mit dem Alter und dem Tod hadert. «Ich kann mir einfach das Nichts nicht vorstellen». Verstärkt wird dies durch die Krebserkrankung seines Freundes Peter Noll. Durch diesen erlebt Frisch, wie eine Person sich quasi vor seinen Augen auflöst. Das Nachlassen der eigenen Beweglichkeit bei der morgendlichen Gymnastik und das Keuchen beim Bergsteigen, zeigen ihm die eigene körperliche Beschränktheit, die mit dem Altern einhergeht. Viel schlimmer ist für ihn aber das Nachlassen der geistigen Fähigkeiten: «Ob man es schon sieht? Die Hand zittert nicht, ich stolpere auch nicht oder selten. Heute habe ich wieder einmal mein Portemonnaie in einem Geschäft liegen lassen».

Ja, das dritte Tagebuch zeigt einen alternden Max Frisch, der sich mit dem Nachlassen der Kräfte auseinandersetzt. Ja, er spricht von Impotenz und bezichtigt sich, ein Alkoholiker zu sein. Ein trauriges, resignierendes Buch, das dem Bild Max Frisch abträglich ist? Nein, im Gegenteil, wer den Schriftsteller und Menschen Max Frisch als Ganzes verstehen will, kommt um das dritte Tagebuch nicht herum.

Literaturhinweis

Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter von Matt. Suhrkamp Verlag Berlin 2010. 31 Franken.

Buchverlosung

ETH Life verlost drei Exemplare des Buches. Bitte senden Sie bis zum 14. April eine E-Mail mit dem Stichwort „Tagebuch“ an ethlife@hk.ethz.ch
Das Buch kann auch in der Polybuchhandlung bezogen werden. Bis zum 21. April 2010 erhalten die 25 ersten ETH Life-Lesenden 10 Prozent Rabatt.