Veröffentlicht: 18.03.10
Studie 2000-Watt-Gesellschaft

Wachstum auch mit weniger Energie möglich

In einer neuen Studie zeigt ein Team um ETH-Ressourcenökonom Lucas Bretschger: Wirtschaftliches Wachstum in der Schweiz ist auch möglich, wenn jedermann nur noch 2000 Watt anstatt wie heute 6000 Watt verbrauchen würde. Energie und Wachstum sind weit weniger stark gekoppelt, als oft argumentiert wird.

Samuel Schläfli
Lucas Bretschger präsentierte seine Studie zu Auswirkungen von Energiesparmassnahmen auf die Volkswirtschaft vor zahlreichen Vertretern aus Wirtschaft, Forschung und Politik. (Bild: ETH Zürich)
Lucas Bretschger präsentierte seine Studie zu Auswirkungen von Energiesparmassnahmen auf die Volkswirtschaft vor zahlreichen Vertretern aus Wirtschaft, Forschung und Politik. (Bild: ETH Zürich) (Grossbild)

2006 rechnete der britische Ökonom Nicholas Stern in einem 650-seitigen Bericht vor: Die Auswirkungen des Klimawandels könnten die Menschheit dereinst viel teurer zu stehen kommen als die Summe, die heute für eine Abwendung von möglichen Klimakatastrophen investiert werden müsste. Das UN-Klimasekretariat bezifferte die möglichen Klimakosten mit bis zu 170 Milliarden Dollar jährlich. Der Klimawandel und die Ressourcenverknappung sind schon lange nicht mehr nur ein ökologisches und soziales Problem, sondern auch eine der grössten ökonomischen Herausforderungen der Zukunft. Trotzdem befürchten viele Politiker und Unternehmer, dass sich Massnahmen wie das Einführen einer CO2-Steuer negativ auf das volkswirtschaftliche Wachstum auswirken könnten.

Lucas Bretschger, Professor für Ressourcenökonomie am Departement Management, Technologie und Ökonomie der ETH Zürich, ging in einem dreijährigen Forschungsprojekt zusammen mit zwei Doktorierenden den volkswirtschaftlichen Auswirkungen von politischen Klimamassnahmen auf den Grund. Mit einem neu entwickelten numerischen Modell simulierten Bretschger und sein Team die ökonomischen Konsequenzen, die ein Übergang zur 2000-Watt-Gesellschaft (siehe Kasten) in der Schweiz hätte. Getrieben durch eine CO2-Steuer, die Bretschger als effiziente politische Massnahme für Verhaltensänderungen erachtet, würde in diesem Szenario jeder Schweizer bis ins Jahr 2100 nur noch 2000 Watt Leistung verbrauchen, also ein Drittel des heutigen Verbrauchs.

Am 11. März wurden die Ergebnisse der Studie an einer öffentlichen Veranstaltung vorgestellt und anschliessend mit Vertretern aus Wirtschaft und Politik diskutiert.

Versicherung gegen Klimakosten

Die Simulationen zeigen, dass das wirtschaftliche Wachstum trotz drastischer Energieeinsparungen nicht wesentlich gebremst würde. Im Vergleich mit einem «Business as usual»-Szenario, das auf einem kontinuierlichen Wachstum von 1,33 Prozent pro Jahr basiert, wird der Konsum beim 2000-Watt-Szenario im Jahr 2035 lediglich um zwei Prozent verringert. Dass heisst, der Konsum beim Klimaschutzszenario hinkt mit eineinhalb Jahren nach.

Ein «Business as usual»-Szenario ist jedoch als Vergleich äusserst unwahrscheinlich, geht man von einer Energieverknappung und zukünftigen Klimaschäden aus, wenn keine politischen Massnahmen dagegen getroffen werden. Deshalb lautet Bretschgers Fazit: «Bei einer internationalen Koordination der Politik könnten wir uns mittelfristig mit moderaten Wachstumsverzichten eine Versicherung gegen potenzielle langfristige und drastische Kosten des Klimawandels kaufen.»

Die berechneten Wachstumswirkungen sind branchenspezifisch: Bei energieintensiven Industrien wie Transport oder Schwerindustrie, verlangsamt sich das Wachstum gegenüber dem «Business as usual», während in investitionsstarken Industrien wie Maschinenbau oder Chemie zusätzliche Wachstumsimpulse ausgelöst werden. Ohne einen wirtschaftlichen Strukturwandel sei ein Umschwung deshalb nicht möglich, stellt Bretschger klar, gibt aber gleichzeitig zu bedenken: «Der Strukturwandel findet sowieso statt, unabhängig von Klimamassnahmen. Er wird dadurch höchstens etwas beschleunigt.» Den verschiedenen Sektoren blieben seiner Meinung nach aber genügend Zeit, um sich an die neuen Rahmenbedingungen anzupassen. Essenziell sei dafür, dass die Politik der Wirtschaft Planungssicherheit biete. Wer hohe Investitionen im Energiebereich tätige, wolle sicher sein, dass sich diese langfristig auszahlen.

Wachstum als entscheidender Faktor

Das neuartige Simulationsmodell CITE (Computable Induced Technical Change and Energy Model) entstand im Auftrag des Bundesamtes für Energie. Es legt einen besonderen Fokus auf langfristige Wachstumsfaktoren wie Spezialisierung, die Akkumulation von Kapital und technische Innovationen. Das Forscherteam kombinierte dafür neue Wachstumstheorien mit aktuellen Schweizer Wirtschaftsdaten und baute damit eine Brücke zwischen Theorie und Praxis. «Für langfristige volkswirtschaftliche Prognosen ist der Wachstumspfad entscheidend. So konsequent wie in unserem Modell wurden neue Wachstumstheorien noch nicht in numerischen Simulationsmodellen für Energiefragen angewandt», erklärt Bretschger die Stärke des CITE-Modells. Zudem ist es vielseitig anwendbar: Die Forscher haben neben der Transformation zur 2000-Watt-Gesellschaft auch mit den Forderungen des «Kopenhagen Akkords» gerechnet.

Dieser verlangt eine Reduktion des Energieverbrauchs von 80 bis 95 Prozent bis 2050 in Industrieländern und eine Stabilisierung des globalen Temperaturanstiegs bei 2°C gegenüber 1990. Die Energiereduktionsziele sind damit noch ambitionierter als im 2000-Watt-Szenario. Trotzdem zeigte sich in der Simulation, dass ein Wachstum in allen Wirtschaftssektoren weiterhin möglich ist.

Weitere Fragen könnten mit dem Modell beantwortet werden: Was zum Beispiel, wenn anstatt einer CO2-Steuer bestimmte Verbote oder neue Normen eingeführt würden? Was bedeutet das 2008 beschlossene 2000-Watt-Ziel der Stadt Zürich für die dort ansässige Wirtschaft? Oder wie sieht ein globales Wirtschaftsszenario unter dem «Kopenhagen Akkord» aus? Bretschger plant, das CITE-Modell für weitere Simulationen zu nutzen und hofft, dass die Ergebnisse als Grundlage für politische Entscheidungen dienen: «In der öffentlichen Diskussion um wirtschaftliche Aspekte des Klimawandels sind die Vertreter von Energieerzeugern und energieintensiven Industrien naturgemäss besonders aktiv. Um die Objektivität der Debatte zu vergrössern, braucht es daher unabhängige Expertisen». Die Simulationsergebnisse unterstützen laut Bretschger griffige Klimamassnahmen, denn: «Klimapolitik ist heute auch Wirtschaftspolitik und zugleich die Vorsorge, um unseren Lebensstandard auch in Zukunft halten zu können.»

Die 2000-Watt-Gesellschaft

Die 2000-Watt-Gesellschaft ist ein energiepolitisches Modell, das im Rahmen des Programms Novatlantis an der ETH Zürich entwickelt wurde. 17'500 Kilowattstunden pro Jahr braucht der Mensch im globalen Mittel, was einer kontinuierlichen Leistung von 2000 Watt entspricht. In der Schweiz verbraucht jedoch jede Person im Durchschnitt 6000 Watt. Die Vision der 2000-Watt-Gesellschaft sieht eine kontinuierliche Absenkung des Energiebedarfs auf 2000 Watt und eine Ablösung der fossilen Energieträger vor. Dieser Wandel bedingt eine rigorose Anpassung der Infrastruktur, eine intelligente Lebensweise und den Einsatz von neusten, hoch effizienten Technologien. Die Lebensqualität soll dabei nicht eingeschränkt werden. Ein Übergang zur 2000-Watt-Gesellschaft wurde vom Bundesamt für Energie auch als eines von vier Entwicklungsszenarien bis im Jahr 2035 aufgenommen. In der Volksabstimmung vom 30. November 2008 haben die Stimmberechtigten der Stadt Zürich eine Änderung der Gemeindeordnung beschlossen, welche die Umsetzung der 2000-Watt-Gesellschaft zum Ziel hat.