Veröffentlicht: 22.01.10
EU-Projekt «SOCIONICAL»

Das Handy als Lebensretter

Mithilfe von Bewegungssensoren in Mobiltelefonen wollen ETH-Forscher das Verhalten von Menschen bei Grossveranstaltungen beobachten. Mit diesen Informationen sollen Paniken verhindert oder Gebäude in Notfällen schneller evakuiert werden. Diese Untersuchung ist Teil des EU-Projekts «SOCIONICAL».

Christine Heidemann
Auf einem Volksfest wie der «Notte Bianca» auf Malta wollen die ETH-Forscher das Gruppenverhalten von rund 1000 Besuchern per Sensoren erfassen. (Bild: ETH Zürich)
Auf einem Volksfest wie der «Notte Bianca» auf Malta wollen die ETH-Forscher das Gruppenverhalten von rund 1000 Besuchern per Sensoren erfassen. (Bild: ETH Zürich) (Grossbild)

Fast jeder hat eines. Je intelligenter, desto besser: Mobiltelefone und Smartphones sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Und vorbei sind die Zeiten, da sie allein dem Telefonieren oder Schreiben von Kurznachrichten dienten. Längst interagieren sie mit ihrem Besitzer, lotsen ihn via GPS durch unbekannte Städte, versorgen ihn mit individuell zugeschnittenen Informationen, etwa über den Aufenthaltsort seiner Freunde - und können dadurch sein Verhalten beeinflussen.

Diese Fähigkeiten der mobilen Begleiter wollen sich die Forscher des EU-Projekts «SOCIONICAL» zu Nutze machen. Eines ihrer vorrangigen Ziele: Sie wollen Menschenmengen in Panik- oder Notfallsituationen per Handy so informieren, dass möglichst viele Personen evakuiert werden können. Etwa bei einem Feuerausbruch.

Was passiert wo

Doch dazu müssen die Wissenschaftler zunächst wissen, was sich genau in der jeweiligen Situation wo abspielt. Wo herrscht Panik? Wo rennen und schreien Leute? Welche Ausgänge sind frei, welche blockiert? «Diese Informationen könnten wir dann an alle Personen verteilen, damit nicht noch mehr Leute in die Richtung rennen, wo schon alles verstopft ist», sagt Projektleiter Paul Lukowicz, Professor im Embedded Systems Lab der Universität Passau und früherer Postdoc an der ETH Zürich. Technisch sei eine solche Evakuierung mit den Funktionen heutiger Geräte fast schon möglich. So sind viele Mobiltelefone nicht nur mit GPS, sondern auch mit Beschleunigungssensoren und Kompass ausgerüstet.

Insgesamt 14 Partner aus ganz Europa sind an dem Projekt «SOCIONICAL» beteiligt. Darunter ist auch das Wearable Computing Laboratory am Institut für Elektronik der ETH Zürich unter der Leitung von Professor Gerhard Tröster, vertreten durch Dr. Daniel Roggen und den Doktorand Martin Wirz. «Wir untersuchen an der ETH, wie wir am Körper getragene Sensoren nutzen können, um das Gruppenverhalten von Personen zu erkennen.» Bisher, so Daniel Roggen, liessen sich lediglich die Bewegungsmuster einzelner Personen analysieren.

Bewegungsmuster von Studierenden erkannt

Ausserdem wollen die ETH-Forscher herausfinden, welche Sensoren sie in Notfallsituationen in einem Handy wirklich brauchen und welche Verfahren am besten dafür geeignet sind, die eingehenden Messdaten auszuwerten. Erste Versuche mit einer Gruppe von zwölf Studierenden haben sie bereits erfolgreich in ihrem Labor durchgeführt. «Da wir wussten, welchen Weg die Studierenden zurücklegen und welche Sensoren zu welcher Person gehören, konnten wir überprüfen, ob die von uns entwickelten Algorithmen die Situation realistisch detektieren», sagt Martin Wirz.

In einem nächsten Schritt wollen die beiden Wissenschaftler mit ihrem Team das Gruppenverhalten von rund 1000 Leuten auf einem Volksfest erfassen. In Frage kämen beispielsweise das diesjährige «Züri Fäscht» oder das Festival «Notte Bianca» auf Malta. Dort haben Roggen und Wirz, gemeinsam mit ihren Projektpartnern vor Ort, bereits im letzten Jahr eine Umfrage durchgeführt. Dabei galt es herauszufinden, wie viele Besucher ein Mobiltelefon bei sich tragen, wo sie es tragen und ob sie bereit wären, sich in Notfallsituationen lokalisieren und informieren zu lassen.

«Die Wahrung der Privatsphäre ist vielen Besuchern sehr wichtig», sagt Martin Wirz. Dennoch sei die Bereitschaft gross gewesen, in Notfallsituationen private Informationen öffentlich zu machen. Dies liesse sich mit einem so genannten «Emergency Mode» durchführen, das heisst, das Mobiltelefon würde nur in einem Notfall die notwendigen persönlichen Daten preisgeben.

Londoner Attentat simulieren

Sollte sich dieses Vorgehen auch im Grossversuch als stabil erweisen, könnten die SOCIONICAL-Forscher verschiedene Szenarien am Computer simulieren. «Wir könnten nachträglich überprüfen, wie viele Menschenleben wir nach dem Londoner Attentat auf die drei U-Bahnen im Jahre 2005 mit unserem Verfahren hätten retten können.»

Basierend auf den Projektergebnissen wollen die Wissenschaftler den Regierungen und Mobiltelefon-Herstellern konkrete Empfehlungen geben. «Denkbar», so Projektleiter Paul Lukowicz, «wäre ein Gesetz, das vorschreibt, jedes Mobiltelefon mit geeigneter Sensorik und einem Emergency Mode auszustatten».