Veröffentlicht: 04.11.09
Neuro-Enhancement

Lernen ist das beste Hirndoping

Der Kognitionswissenschaftler Ralph Schumacher hat für den Deutschen Bundestag Studien zu lernstimulierenden Medikamenten für Gesunde, so genannte Neuro-Enhancer, unter die Lupe genommen. Sein Fazit: Die Wirkungen sind nicht belegt. Intelligent organisiertes Wissen und effizientes Lernen bringen weitaus mehr.

Samuel Schläfli
Ein Gutachten des Kognitionswissenschaftlers Ralph Schumacher zeigt: Wirkung und Gefahren von «Neuro-Enhancern» liegen heute noch weitgehend im Dunkeln. (Bild: Mona Michel/flickr)
Ein Gutachten des Kognitionswissenschaftlers Ralph Schumacher zeigt: Wirkung und Gefahren von «Neuro-Enhancern» liegen heute noch weitgehend im Dunkeln. (Bild: Mona Michel/flickr) (Grossbild)

Herr Schumacher, vergangenen Dezember lösten amerikanische Wissenschaftler mit einem Plädoyer für den Einsatz von Lifestyle-Medikamenten bei gesunden Menschen eine Kontroverse aus. Neuro-Enhancer, darunter vor allem Ritalin, sind seither ein öffentliches Thema und mittlerweile beschäftigen sich auch Regierungen und Forschungsinstitute damit. Werden Hochschulen bald Dopingtests durchführen müssen, damit die Chancengleichheit in Prüfungen noch gewährleistet ist?

Nein, ganz sicher nicht. Bis heute gibt es noch keinen einzigen Neuro-Enhancer, dessen Wirkung wissenschaftlich belegt ist. Die Anzahl der bislang durchgeführten Studien ist sehr klein. Bis heute ist das Thema in erster Linie ein Medienhype.

Können Sie uns etwas über einen Neuro-Enhancement-Eigenversuch erzählen?

Nein, ich würde solches Zeugs nie ausprobieren. Natürlich ist die Idee, seine Lernkapazität und Aufmerksamkeit durch das Einwerfen einer Pille zu vergrössern, verlockend. Deshalb ist das Thema für die Öffentlichkeit ja auch so attraktiv. Ich bin aber davon überzeugt, dass dies eine Illusion bleiben wird. Die wissenschaftlichen Studien geben mir bislang Recht.

Sie haben für den Deutschen Bundestag ein Gutachten erstellt, in dem Sie solche Studien sammelten und bewerteten. Die Deutsche Regierung will damit unter anderem abklären, ob eine Anpassung der Gesetzgebung im Hinblick auf Neuro-Enhancer nötig werden könnte. Wie lautet Ihre Empfehlung?

Der Bundestag soll sich wichtigeren Themen widmen. Neuro-Enhancer wie Levodopa, Modafinil oder Ritalin wirken nicht als Gehirndoping, wie dies in den populären Medien häufig behauptet wird. Darum braucht es auch keine neuen Gesetze. Wer solche Medikamente schluckt, kann keine zuverlässigen oder nennenswerten kognitiven Leistungssteigerungen erwarten. Insofern hinkt auch der Vergleich mit dem Doping im Sport, denn dort ist die Leistungsverbesserung und damit die Verletzung der Fairness unumstritten.

Sie kamen im Gutachten unter anderem zum Schluss, dass die wissenschaftlichen Grundlagen zum Neuro-Enhancement sehr dünn sind.

Ja, bis heute sind mir 16 Studien zur Wirksamkeit von solchen Medikamenten bei Gesunden bekannt. Viele davon weisen grosse methodische Mängel auf. Oft wurden keine standardisierten Tests zur Erfassung der kognitiven Leistungen eingesetzt, die Ergebnisse nicht mit Nachfolgeversuchen repliziert und die Versuchsgruppen waren für repräsentative Ergebnisse häufig viel zu klein. Zum Beispiel wurde ein vielfach zitiertes Experiment zu den Wirkungen von Modafinil auf die Flugleistungen von Helikopterpiloten mit nur sechs Personen durchgeführt. Aus diesen Gründen stellen die betreffenden Untersuchungen keine belastbaren Ergebnisse bereit, auf deren Grundlage man Empfehlungen abgeben könnte.

Sie kritisieren im Gutachten auch, dass unterschiedliche Studien zum selben Wirkstoff widersprüchliche Ergebnisse lieferten.

Ja, der Wirkstoff Donepezil zum Beispiel soll den Abbau des aufmerksamkeitsfördernden Acetylcholin im Gehirn unterbinden, was sich bei Alzheimerpatienten bewahrheitet hat. Zum Beweis der Wirksamkeit bei gesunden Menschen wird oft eine Studie der Stanford University mit 18 Piloten angeführt. Die Probanden konnten sich komplizierte Flugmanöver nach der Donepezil-Einnahme anscheinend besser merken. Zwei deutsche Forscherteams führten später ähnliche Tests mit Donepezil durch, jedoch mit mehr Versuchspersonen und Placebo-Kontrollgruppen. Ein Team konnte nur bei bestimmten kognitiven Leistungen schwache Unterschiede erkennen, nicht jedoch – wie vorausgesagt ­- bei der Aufmerksamkeit oder dem Arbeitsgedächtnis. Bei dem anderen Team war die Aufmerksamkeit der Donepezil-Probanden sogar signifikant schlechter als bei den Personen aus der Placebo-Gruppe. Sie sehen selber, auf welchem dünnen wissenschaftlichen Eis sich die Befürworter des Neuro-Enhancing bewegen.

Die Wirksamkeit von Donepezil konnte jedoch in Studien mit kranken Menschen belegt werden. Weshalb zeigen die Medikamente in den Tests bei gesunden Menschen keine Wirkung?

Die meisten der heute als Neuro-Enhancer genutzten Wirkstoffe wurden für die Therapie von neuronalen Erkrankungen entwickelt. So genannte Neuromodulatoren erhöhen das Aktivierungsniveau und damit die Lern- und Leistungsbereitschaft, unter anderem bei Parkinson- oder Schlaganfall-Patienten. Mit Neuromodulatoren kann das Wiedererlernen von motorischen oder sprachlichen Fähigkeiten begünstigt werden, die aufgrund der Krankheit verloren gingen oder eingeschränkt sind. Das betrifft vor allem assoziatives Lernen, also eine sehr einfache Art des Lernens. Diese Erfolge können aber unter keinen Umständen auf das wesentlich komplexere verstehende Lernen, zu dem auch das schulische Lernen zählt, bei gesunden Menschen übertragen werden.

Sind solche Medikamente für gesunde Menschen gefährlich?

Für fundierte Aussagen darüber fehlen uns heute Langzeitstudien. Es besteht sicher die Gefahr der Abhängigkeit, wenn der Körper Stoffe, die für den Lernprozess und die Aufmerksamkeit notwendig sind, wie zum Beispiel Dopamin, nicht mehr ausreichend selber produziert, weil diese ständig extern zugeführt werden. Auch die Überdosierung ist ein Thema: Wer sagt, wie viel ich von einem Wirkstoff einnehmen soll, damit ich die anschliessende Prüfung hellwach überstehe? Doch allem voran stellt sich die grundsätzliche Frage: Wieso sollte man sich einem Risiko aussetzen, wenn die Wirkung von Neuro-Enhancern noch nicht einmal wissenschaftlich belegt ist?

Nun gibt es aber doch viele Erlebnisberichte, die dem Ritalin und dem darin enthaltenen Wirkstoff Methylphenidat, das zu einer erhöhten Ausschüttung von Dopamin führt, eine sehr stimulierende Wirkung nachsagen.

Nach der Einnahme fühlen sich die Meisten leistungsstark und mächtig. Tests mit Studierenden haben jedoch gezeigt, dass diese sehr impulsiv und fahrig werden, mit dem Lösen von Aufgaben beginnen, bevor sie überhaupt alle relevanten Informationen haben und sich am Ende selbst überschätzen. Ihre Leistungen waren daher schlechter als die Leistungen der Placebo-Gruppe. Das rührt daher, dass ihre bereits optimale kognitive Aktivierung künstlich auf ein zu hohes Niveau angehoben wird. Insofern führt Ritalin bei gesunden Menschen nicht zu einer Leistungssteigerung, sondern lediglich zu Selbstüberschätzung.

In ihrem Gutachten stellen Sie den Studien zu pharmakologischen Neuro-Enhancern auch Studienergebnisse zu klassischen psychologischen Trainings für verbesserte kognitive Leistungen gegenüber. Wie sehen die Erfolge bei solchen Trainings aus?

Im Bereich der psychologischen Lehr- und Lernforschung gibt es eine ganze Menge fundierter Studien, die auch in angesehenen Journalen publiziert wurden. Sie belegen, dass verschiedene Lerntechniken wesentlich zur Förderung von kognitiven Leistungen beitragen können und den Lernerfolg nachhaltig unterstützen. Zudem sind die Effektgrössen bei solchen Trainings im Vergleich zu denjenigen bei Neuro-Enhancern - dort wo solche Effekte überhaupt beobachtet werden konnten – deutlich grösser.

Mit welchen psychologischen Methoden kann das Lernen gefördert werden?

Unsere geistige Leistungsfähigkeit hängt wesentlich davon ab, dass wir über intelligent organisiertes Wissen verfügen, das uns für Problemlösungen zur Verfügung steht. Solches kann erlernt werden, indem zum Beispiel der Umgang mit geistigen Werkzeugen wie Diagrammen oder Graphen geübt wird. Wer gelernt hat, abstrakte Zusammenhänge mithilfe von Graphen darzustellen, der wird auch in der Lage sein, zwischen oberflächlich verschiedenen Phänomenen Gemeinsamkeiten festzustellen. Das Verständnis von linearen Graphen in der Mathematik hilft gleichzeitig Zusammenhänge in der Ökonomie besser zu verstehen.

Lassen sich Intelligenzunterschiede durch intelligent organisiertes Wissen kompensieren?

Ja, bis zu einem gewissen Umfang schon. Auch hat sich gezeigt, dass Leistungsunterschiede bei Jugendlichen unter bestimmten Umständen mehr mit Selbstdisziplin als mit Intelligenz zu tun haben. Kompetenzen zur Selbststeuerung lassen sich ebenfalls gezielt lernen.

Was wünschen Sie sich für die zukünftige Debatte rund um Lernstrategien und Neuro-Enhancing?

In der Öffentlichkeit wird praktisch nur über pharmakologisches Neuro-Enhancement gesprochen. Dabei geht vollkommen unter, dass die psychologische Lehr- und Lernforschung viel effizientere, lernbasierte Methoden zur kognitiven Leistungssteigerung kennt – genau dies hat ja auch unser Gutachten gezeigt. Das bedeutet natürlich harte Arbeit an sich selbst. Doch Pille einwerfen und von alleine dazulernen wird weiterhin eine Illusion bleiben: «Quick and easy» gibt es nicht.

Ralph Schumacher ist Kognitionswissenschaftler am MINT-Lernzentrum der ETH Zürich. Seine Arbeitsgebiete sind kognitive Entwicklung und Lernen, das Verhältnis von Lehr-Lern-Forschung und Hirnforschung sowie die Entwicklung kognitiv aktivierender Lernformen.

Neuroenhancer

Zu den Neuro-Enhancern werden Medikamente gezählt, die vermeintlich einen positiven Einfluss auf die kognitive Leistungsfähigkeit von gesunden Menschen haben. Dazu gehören Amphetamine, wie der in Ritalin enthaltene Wirkstoff Methylphenidat, Dopamin und dessen Vorläufer Levodopa, die bei der Rehabilitierung von Schlaganfall-Patienten eingesetzt werden. Auch Donepezil, das für die Alzheimerbehandlung genutzt wird und Modafinil für die Behandlung von Schlafstörungen zählen zu den Neuro-Enhancern. Diese Medikamente wurden für Krankheiten und Defizite im neuronalen Bereich entwickelt und werden als Lernhilfen missbraucht. Sie sind rezeptpflichtig, können jedoch oft über Internet aus dem Ausland bestellt werden. Noch gibt es keine pharmakologischen Neuro-Enhancer, die einzig für das Neuro-Enhancement von gesunden Personen entwickelt wurden. Die Pharmaindustrie erkannte jedoch in diesem Bereich unlängst einen potenziellen Markt und investiert in neue Wirkstoffe.
Wie viele Menschen heute bereits zu Neuro-Enhancern greifen und inwiefern diese Zahl ansteigt, ist schwierig abzuschätzen. Bei einer Befragung durch das renommierte Wissenschaftsmagazin «Nature» gaben von 1400 Personen aus 60 Ländern 20 Prozent der Befragten an, Medikamente einzunehmen, die die Aufmerksamkeit, die Konzentration oder das Gedächtnis verbessern. Die Befragung ist jedoch unter Experten umstritten. Es gebe bei solchen Befragungen oft eine grosse Dunkelziffer an Personen, die die Fragen nicht ihrem tatsächlichen Verhalten entsprechend beantworte. Bei epidemiologischen Studien in den USA liegt die Spanne der Studenten, die zu Neuro-Enhancern greifen, zwischen drei und elf Prozent. Zur Situation in Europa und der Schweiz gibt es bislang keine verlässlichen Zahlen.

 
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