Veröffentlicht: 10.06.09
Darwin-Dossier: 150 Jahre Herbar der ETH Zürich

Unersetzbarer Datenschatz

Vor 150 Jahren stellte die ETH den ersten vollamtlichen Kurator für das Zürcher Herbar von ETH und Universität Zürich an. Die dreieinhalb Millionen Belege sind heute von unschätzbarem Wert, gerade für die moderne Forschung.

Peter Rüegg
In der überdüngten Wiese wächst kein Enzian mehr: Matthias Baltisberger mit einem 120jährigen Beleg aus der Pflanzensammlung der ETH. (Bild: P. Rüegg/ETH Zürich)
In der überdüngten Wiese wächst kein Enzian mehr: Matthias Baltisberger mit einem 120jährigen Beleg aus der Pflanzensammlung der ETH. (Bild: P. Rüegg/ETH Zürich) (Grossbild)

Matthias Baltisberger, Professor für Botanik der ETH, steht in einer Wiese am Fuss des Üetlibergs, in der Nähe des Kolbenhofs, am Stadtrand von Zürich. Das Gras ist saftig grün, üppig blüht der Löwenzahn. Hierher stieg an einem Apriltag 1880 auch der damals 17jährige Hobbybotaniker Adolf Frick. Spärlich und lückig muss der Grasbewuchs damals gewesen sein, und von Löwenzahn keine Spur. Frick brauchte sich bloss zu bücken, um ein paar Frühlingsenziane zu pflücken und in seine Botanisierbüchse zu legen. Zu Hause trocknete und presste er die Pflanzen und klebte sie auf einen Bogen Papier, fein säuberlich beschriftet.

Frick konnte sich dabei wohl kaum vorstellen, dass mehr als 120 Jahre später Matthias Baltisberger als Kurator des Zürcher Herbars von ETH und Uni Zürich mit einem Beleg aus seiner Sammlung in der Hand auf derselben Wiese steht – und Enziane auf Zürcher Stadtgebiet nicht mehr zu finden sind.

Zeugen aufbewahren

Fricks lebendiger Zeuge vergangener Tage wird sorgfältig in der Pflanzensammlung der beiden Hochschulen aufbewahrt, die dieses Jahr ein Jubiläum feiert: Vor 150 Jahren wurde das Herbar mit der Anstellung des ersten vollamtlichen Kurators Christian Brügger offiziell begründet. Dieses Jubiläum feiern Baltisberger und der Kurator der Pilzsammlung, Reinhard Berndt, am 17. Juni im Lichthof des CHN. Die Pilzsammlung (siehe ETH Life) gehört deshalb zum Herbar, weil Pilze ursprünglich zu den Pflanzen zählten. Die Pilze werden im CHN-Gebäude, ETH Zentrum, aufbewahrt, die Pflanzen im Botanischen Garten der Universität Zürich.

Erster Kurator vor 150 Jahren

Den Grundstock für das Herbar legte Oswald Heer, Botanik-Professor an der Universität Zürich, später mit einer Doppelprofessur auch an der ETH. Aus privatem Interesse sowie für den Unterricht sammelte er Pflanzen. Seine Sammlung wuchs stetig und wurde für ihn zu gross, weshalb Brügger als Kurator angestellt wurde, was den Startpunkt einer wechselvollen Geschichte bedeutete. 1884 trennten sich die botanischen Institute von ETH und Uni, und das Herbar ging an die ETH, die zoologische Sammlungen an die Uni. 1895 gründete die Uni das Botanische Museum am neuen Institut für Systematische Botanik und schuf somit ihre eigene Sammlung.

Fast hundert Jahre später führten ETH und Uni ihre Herbarien wieder zusammen und schufen damit eine Sammlung, die zu den 20 grössten der Welt zählt. Denn im Lauf der Zeit stockten Privatsammlungen, darunter 150‘000 Belege der Sammlung Rübel, den Bestand laufend auf. Das Zürcher Herbar ist, nach der Uni Genf, das zweitgrösste der Schweiz. Es umfasst 2,5 Mio. Pflanzenbelege und eine Million Pilzbelege.

Moderne Forschung mit altem Material

Viele verbinden den Begriff «Herbar» mit antiquierter Wissenschaft und mit verstaubten, getrockneten Pflanzen. Das so zu empfinden, sei legitim, habe aber nichts mit moderner Herbararbeit zu tun, sagt Baltisberger. Früher habe man Pflanzen vor allem zur Dokumentation und zum Vergleich gesammelt. Sammler des 19. Jahrhunderts handelten gar mit Pflanzenbelegen, um Geld zu verdienen.

Dem Zweck der Dokumentation dient das Herbar zwar nach wie vor. «Heute betreiben wir damit aber auch moderne Biodiversitätsforschung», betont der Botanik-Professor. Beispiel Goldrute, eine invasive Pflanze aus Nordamerika: Früher sammelten Leute oft, was gross, bunt und auffällig war - so wie die Goldrute. Anhand von Herbarbelegen lässt sich nun aufzeigen, wie sich die Pflanze geographisch und zeitlich ausgebreitet hat.

Die Belege bezeugen zudem die geographische und zeitliche Variabilität und Morphologie einer Pflanzenart. Forscher können zurückverfolgen, wie sich die Fertilität von Pollen entwickelt hat oder aus kleinsten Blattproben Schwermetalle isolieren. Und selbst die Erbsubstanz lässt sich aus bis zu 200 Jahren alten Belegen gewinnen. Baltisberger ist überzeugt, dass das Herbar auch für Klimaforscher interessant werden könnte, weil die Belege über Veränderungen der Biologie und der Verbreitung von Arten oder Vegetationstypen Auskunft geben.

Jeder Beleg ist Unikat

Pflanzenart, Sammelort, Sammeldatum und Sammler sind für einen Beleg charakteristisch. «Somit ist jeder Beleg ein sehr wertvolles Unikat», betont Baltisberger, «wird er zerstört, kann man nicht einfach nach draussen gehen und ihn mit einer Pflanze der selben Art ersetzen.» Dies vor allem deshalb, weil jedes Individuum einer bestimmten Art genetisch einzigartig ist.

Das Zürcher Herbar bewahrt zudem mehr als 13‘000 Typus-Belege auf. Der Typus ist diejenige Pflanze, anhand derer eine Art erstmalig beschrieben wurde. Will ein Forscher eine neue Art beschreiben, so muss er diese mit Typen vergleichen. Eine zeitraubende Arbeit, die weltweit in Herbarien vorgenommen wird. Über die Typus-Belege im Zürcher Herbar können Biosystematiker Informationen online abrufen. Ausleihen dürfen sie sie nicht, dazu sind sie zu wertvoll.

Das Herbar beherberge einen gewaltigen Datenschatz. «Es ist ein grundlegendes Instrument, wie Bibliotheken für Sprachwissenschaftler», findet Baltisberger. Es sei wichtig, die Sammlung weiterhin zu pflegen, zu aktualisieren, zu vergrössern und vor allem damit zu arbeiten.

Schutz eines Kulturguts

Damit Sammlungen nicht verloren gehen, brauchen sie den gleichen Schutz wie andere Kulturgüter. Feuer, Wasser oder Insektenfrass schaden den Belegen. Bei kriegerischen Auseinandersetzungen müsste das Herbar eigentlich in einen Bunker eingelagert werden. Eine viel alltäglichere Gefahr sind jedoch Leute, die unsorgfältig mit dem Material umgehen. Kurator Baltisberger händigt deshalb nicht Einzelbelege aus, sondern nur Stapel. «Wird ein einzelner Bogen falsch verstaut, findet man ihn nur mit einer Chance von eins zu zweieinhalb Millionen wieder.»