Veröffentlicht: 29.04.09
Schweinegrippe

Mortalität besser verstehen

Letzte Woche hat noch niemand von der Schweinegrippe geredet. Jetzt läuten weltweit Alarmglocken. Am Dienstagmorgen erhöhte die WHO ihre Pandemie-Warnung auf die vierte Stufe. Sebastian Bonhoeffer, Professor für theoretische Biologie, über die Mechanismen der Grippe und was dagegen getan werden kann.

Interview: Peter Rüegg
Sebastian Bonhoeffer, Professor für theoretische Biologie, rechnet damit, dass sich das Schweinegrippe-Virus ausbreitet. (Bild: zVg)
Sebastian Bonhoeffer, Professor für theoretische Biologie, rechnet damit, dass sich das Schweinegrippe-Virus ausbreitet. (Bild: zVg) (Grossbild)

Herr Bonhoeffer, wie schätzen Sie die Situation bei der Schweinegrippe ein?

Als ich am letzten Freitag zum ersten Mal davon hörte, dachte ich sofort, dass es sich um etwas Anderes handelt als bei der Vogelgrippe. Der grosse Unterschied ist, dass beim Schweinegrippe-Virus von Anfang an klar zu sein schien, dass es eine Übertragung von Mensch zu Mensch gibt. Bei der Vogelgrippe gab es diese nur ausnahmsweise, dafür war die hohe Mortalität Besorgnis erregend. Mich überrascht jedoch nicht, dass sich die Schweinegrippe so rasch in andere Länder verbreitet. Wir leben in einer globalisierten Welt.

Wie gefährlich ist das Virus?

Wie pathogen das Virus tatsächlich ist, ist noch unklar. Da gibt es Unterschiede in der Mortalität von Mexiko zu den USA. Die Mortalität in Mexiko liegt wohl zurzeit bei 5 bis 10 Prozent. In den USA vermutet man, dass sie niedriger ist.

Wie hoch ist diese Rate verglichen mit anderen Grippeepidemien?

Das Problem ist die statistische Ungewissheit. Wenn es zehn Prozent sind, ist die Mortalität sehr hoch, viel höher als bei der Spanischen Gruppe von 1918. Diese hatte bei der Altersgruppe der 20- bis 40-jährigen um ein Prozent betragen. Die Mortalitätskurve der Spanischen Grippe sah aus wie ein «W», mit hoher Sterblichkeit bei Kindern und Alten sowie einem markanten Ausschlag bei Erkrankten zwischen 20 und 40. Die aktuelle Grippe hat bisher ebenfalls - zumindest in Mexiko - eine unüblich hohe Mortalität in dieser Altersklasse und scheint diesbezüglich der Spanischen Grippe zu ähneln. Wenn dem wirklich so ist, ist die Schweinegrippe eine sehr ernste Sache.

Statt H5N1, dem Vogelgrippe-Virus, ist H1N1 aufgetaucht. Ein unbekannter neuer Kandidat?

Die Spanische Grippe war auch auf eine H1N1-Variante des Grippevirus zurückzuführen. 1950 verschwand das Virus und wurde durch andere Varianten ersetzt. 1970 tauchte es wieder auf, möglicherweise wegen misslungenen Impfstoffversuchen im Fernen Osten. Das Virusgenom wird sicher sequenziert und dann weiss man mehr über seine Herkunft.

Wie lange dauert es bis ein Impfstoff vorliegt?

Grippeimpfstoff wird in Hühnereiern produziert. Die Frage ist also, wie schnell es geht, bis man genügend Impfdosen hat. Die nächste Frage ist dann, wie gut der neue Impfstoff schützt. Den Impfstoff für die saisonale Grippe muss man im Voraus planen und erraten, welche Viren sich durchsetzen werden. Wenn man genau weiss, welches Virus zu bekämpfen ist, könnte der Impfschutz besser sein.

Der Einsatz von antiviralen Medikamenten wie Tamiflu erhöht den Druck auf das Virus, sich anzupassen. Wie schnell wird das Virus resistent?

Ich befürchte, dass Tamiflu sehr schnell nicht mehr wirkt. Das haben mein Mitarbeiter Roland Regoes und ich 2006, als die Vogelgrippe aktuell war, anhand eines Computermodells gezeigt. Viele sagten damals, dass Tamiflu ein sehr effizientes Medikament sei. Es wurde argumentiert, dass alle bis dahin gefundenen Resistenzmutationen das Potenzial des Virus, sich zu verbreiten, sehr stark reduzierten. Deshalb meinten wohl viele, dass Resistenzen kaum zum Problem werden. Wir waren da etwas verhaltener in unserem Optimismus und warteten ab.

Mit welchem Resultat?

Die entsprechenden Mutationen haben das Virus in seiner Fitness nicht stark eingeschränkt. Es hat sich leider bestätigt, dass es leicht übertragbare Varianten gibt. Ein hoher Prozentsatz der zirkulierenden Grippeviren ist resistent gegen Tamiflu, und sie lassen sich offensichtlich auch leicht übertragen. Die H1N1-Viren der aktuellen Schweine-Grippe sind zum Glück noch empfindlich. Es würde mich aber nicht überraschen, wenn sich bei sehr hohem Einsatz von Tamiflu rasch resistente Stämme bilden würden. Ich will den Wert des Medikaments nicht kleinreden, aber man sollte nicht zu optimistisch sein, dass man damit die Epidemie in den Griff kriegt.

Was wäre für Sie am wichtigsten, um die Epidemie in den Griff zu bekommen?

Am wichtigsten ist zu verstehen, wie gross die Mortalität effektiv ist. Wenn die Schweinegrippe wie die Spanische Grippe eine W-förmige Mortalitätskurve hätte, dann wäre das sehr bedenklich.

Aber unter Kontrolle bringen wir damit die Ausbreitung der Krankheit nicht.

Gegenüber Infektionskrankheiten sind wir merkwürdig eingestellt. Wir glauben, dass wir sie im Griff haben. Wir haben viele Impfstoffe, Medikamente oder Antibiotika. Jedesmal, wenn eine Krankheit ausbricht, gibt es einen grossen Angstreflex. Das war bei SARS und der Avian Flu so. Dabei sind Infektionskrankheiten immer ein Problem, sie waren es früher und bleiben es. Dies verlieren wir häufig aus den Augen. Dass irgendwann wieder eine Pandemie kommt, haben alle Influenza-Forscher erwartet. Ob diese Schweinegrippe nun tatsächlich eine neue Pandemie wird, ist allerdings offen.

Alle schauten nach Ostasien. Hätten Sie erwartet, dass der neue Erreger aus Mittelamerika kommt?

Der Grund, warum viele nach Südostasien schauten, ist, weil Influenza dort ganzjährig vorhanden ist. Zudem leben Mensch und verschiedene Tierarten nahe beieinander, und die Bevölkerungsdichte ist sehr hoch. Das hat bisher dafür gesprochen, dass die neue Pandemie dort anfangen könnte. Aber im Prinzip kann sie, wie man jetzt sieht, von überall her kommen.

Am Freitag war das Thema noch kaum präsent, jetzt sind die Zeitungsspalten voll davon. Die Meldungen überschlagen sich. Die Informationen verbreiten sich rasend.

Positiv ist, dass die weltweiten Überwachungssysteme besser funktionieren. Die Länder haben erkannt, dass sie international koordiniert handeln müssen. Bei SARS informierte China noch sehr restriktiv. Hinterher hat sich gezeigt, dass eine rasche Information wichtig gewesen wäre.

Wie wird es mit der Schweinegrippe weitergehen?

Die nächsten Tage werden Klarheit schaffen über die Mortalität, auch wenn es mysteriös ist, dass diese in Mexiko anders ist als in anderen Ländern.

War die Versorgung der Leute mit Nahrung und Medikamenten schlechter als beispielsweise in USA?

Normalerweise steigen die Krankheitsfälle in allen Alterschichten. Weshalb aber steigt die Mortalität überproportional in der mittleren Alterklasse? Das versteht man auch bei der Spanischen Grippe nicht. Dass von den Erkrankten in USA niemand gestorben ist, sagt vielleicht nicht allzuviel. Auf die 40 gemeldeten Fälle würde man bei einer Mortalität von 5 Prozent nur 2 Todesfälle erwartet. Wie aussagekräftig ist es, dass es dort bisher keine Todesfälle gegeben hat? Die Frage deshalb ist, ob die Mortalitätsrate in den USA, die ich allerdings auch nur aus Zeitungsmeldungen berechnen kann, tatsächlich niedriger ist. Zu hoffen ist das sehr!

Das neue Virus scheint sehr ansteckend zu sein. Können Sie das bestätigen?

Wie ansteckend das neue Virus ist, wissen wir nicht. Dies muss man erst untersuchen. Die Spanische Grippe hatte eine so genannte Nettoreproduktionszahl von ungefähr 2, das heisst, dass eine Person über den Verlauf der Infektion im Mittel zwei weitere anstecken kann (zumindest zu Beginn einer Epidemie). Normale Grippeviren haben eine Nettoreproduktionszahl von 1.5. Verglichen mit Kinderkrankheiten ist der Wert klein, die haben eine Nettoreproduktionszahl von um die 15. Masern sind zehn Mal ansteckender als das typische Grippevirus.

Wie kann man Epidemien in den Griff bekommen?

Epidemien lassen sich zu Beginn am einfachsten kontrollieren. Die gegenwärtige Epidemie ist allerdings schon einigermassen weit fortgeschritten. Bei einem leicht übertragbaren Erreger besteht auch die Chance, dass er rein zufällig wieder verschwindet. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Epidemie nicht ausbreitet oder wieder verschwindet, ist umso grösser, je weniger Leute infiziert sind.

Besteht nicht wieder die Gefahr eines Medienhypes?

Man muss aufpassen, dass das Gezeter nicht unnötig ist. Was, wenn es diese Schweinegrippe nicht war, dafür aber die nächste? Die Bevölkerung wieder zu alarmieren, gelingt nicht jedesmal. Viele finden, dass die Vogelgrippe ein mediales Spektakel war. Mit der Schweinegrippe verhält es sich vielleicht ähnlich. Nur: Man weiss es vorher nicht. Die Behörden haben sehr schwierige Entscheidungen zu treffen - auf einer lückenhaften Datenlage. Sie müssen diese Epidemien so ernst wie möglich nehmen, ohne Panik zu schüren, und tragen eine hohe Verantwortung.

Welche Grundlagen können Forscher bereitstellen?

Experimentelle Möglichkeiten gibt es kaum. Computermodelle sind fast das einzige Mittel, um Varianten durchzuspielen und zu prüfen. Diese Modelle sind hilfreich und notwendig, sind aber nicht über alle Fehler erhaben. Modelle können überprüfen, was in einer Bevölkerung passiert, wenn man zum Beispiel Tamiflu als Prophylaxe einsetzt oder erst im Krankheitsfall. Wie gut Modelle die Situation beschreiben, und zwar prospektiv, ist natürlich zumindest teilweise fraglich. Aber es ist letztlich so ziemlich das Einzige, was wir tun können, um den Verlauf von Epidemien abschätzen zu können. Modelle können die vielen Faktoren, die ineinandergreifen, gut darstellen. Mit intuitiver Einschätzung liegt man da oft daneben.