Veröffentlicht: 23.02.09
150 Jahre Evolutionstheorie

Denken in Populationen

Vor 150 Jahren veröffentlichte der Brite Charles Darwin sein berühmtes Werk über die Entstehung der Arten, welches die Weltanschauung vieler Menschen erschütterte und bis heute das Fundament der Biologie bildet. Im Interview beschreibt Paul Schmid-Hempel, Professor für Experimentelle Ökologie, was von der ursprünglichen Evolutionstheorie erhalten blieb und welche modernen Forschungszweige sich daraus entwickelt haben.

Inteview: Peter Rüegg
Paul Schmid-Hempel, Professor für experimentelle Ökologie (Bild: P. Rüegg / ETH Zürich)
Paul Schmid-Hempel, Professor für experimentelle Ökologie (Bild: P. Rüegg / ETH Zürich) (Grossbild)

ETH Life: Das Darwin-Jahr ist angelaufen, der Naturforscher ist in aller Munde und postum zum Medienstar geworden. Haben Sie ein solch grosses Echo erwartet?

Paul Schmid-Hempel: Nein. Ich dachte, dass sich nicht viele die Finger mit dem Thema verbrennen wollten. Über das grosse Echo, welches das Darwin-Jahr nun weltweit hervorruft, bin ich positiv überrascht.

Wie erklären Sie sich die Popularität von Darwin und seiner Evolutionstheorie?

Das Thema Evolution bewegt viele Leute. Selbst jene, die den Namen Darwin nicht kennen, wissen, dass Evolution das Weltbild betrifft und buchstäblich ans Lebendige gehen kann. Aus Biologensicht ist Charles Darwin eine überragende Figur des 19. Jahrhunderts, die bis heute hoch respektiert wird. Er hat ein Fundament gelegt, das Bestand hat. Er lebte den «way to do science» wie nur ganz wenige zu jener Zeit. Er verfolgte den wissenschaftlichen Ansatz konsequent: Konzept, Evidenz, kritische Evaluation der Ideen; verwerfen, was nicht stimmt; akzeptieren, was mit dem Konzept kompatibel ist. Das trägt dazu bei, dass er bis heute populär und wichtig geblieben ist.

Welche Fähigkeiten zeichneten ihn aus?

Er hatte eine Reihe von Talenten, wie zum Beispiel eine genaue Beobachtungsgabe und äusserste Akribie. Er hatte die überragende Fähigkeit, Fakten in einem theoretischen Konzept miteinander zu verbinden. Überdies war er wohlhabend, musste also keine Zeit für die Suche nach Finanzen aufwenden. Und er hatte die Gabe, Leute anzusprechen und zur Mitarbeit zu motivieren. Dadurch erhielt er Daten, konnte mit anderen über seine Resultate diskutieren. Vieles geschah aus der Ferne auf dem Briefweg.

Welche von Darwins Ideen sind noch heute richtig?

Die Kernthese ist noch immer gültig: Variation, Überproduktion, Selektion und Vererbung, was zu Anpassungen führt. Was wichtig ist: diese Mechanismen laufen in Populationen ab. Dieses «Populations-Denken» bereitet vielen Leuten jedoch nach wie vor grosse Schwierigkeiten, obwohl es eigentlich ziemlich einfach ist. Ein weiteres grosses Erbe Darwins ist, dass er die vergleichende Forschung in den Dienst der Evolution stellte. Auf diesem Fundament stehen wir noch heute. Das gilt übrigens für alle Verästelungen seines Werks.

Worin gelten Darwins Lehren als überholt?

Seine Vorstellung über die Vererbung sind total überholt. Mit den damaligen Theorien konnte er diese auch nicht erklären, weshalb er stark kritisiert wurde. Er brauchte Kühnheit, seine Theorie zu publizieren und diese Schwierigkeit anzuerkennen, ohne dass er eine Lösung anzubieten hatte. Erst Gregor Mendel zeigte, dass die Vererbung in «Partikeln» – heute als Gene bezeichnet – geschieht, was die Variation erhält und der Selektion zugänglich macht.

Darwin wurde auch missverstanden und seine Theorie missbraucht. Worin liegen die Missbräuche und Missverständnisse?

Ein paar Jahre nach Darwins Veröffentlichung von «The origin of species» erhielten unter anderem die Theorien von Herbert Spencer Auftrieb. Diese Bewegung äusserte zum Beispiel die Besorgnis, dass sich tiefe gesellschaftliche Klassen stärker fortpflanzten als obere Klassen. Die medizinische Versorgung und Armenküchen würden auch den weniger Fitten helfen zu überleben. Das war der Kern des Sozialdarwinismus. Darwin vertrat jedoch stets die Meinung, dass es nicht nur ums nackte Überleben geht und dass die Evolution auch Sympathie und Sozialkompetenz hervorbringt. Er empfand dies deshalb als eine nicht korrekte Interpretation seiner Ideen.

Welche weiteren Missverständnisse geistern in den Köpfen der Leute herum?

Ein Missverständnis ist, dass der «Fitteste» der «Stärkste» sei. Darwin sprach immer vom «Geeignetsten», der nicht zwingend der Stärkste sein muss, sondern zum Beispiel auch der kooperativste. Ein weiteres grosses Missverständnis ist, dass Evolution ausschliesslich durch Zufall bestimmt wird. Der Zufall generiert nur das Rohmaterial – die genetische Variation innerhalb einer Population - für die Selektion, welche die eigentliche treibende Kraft der Evolution ist. Evolution ist nicht deterministisch, sondern probabilistisch. Selbst wenn jemand ein «gutes» Gen hat, gibt es überhaupt keine Garantie dafür, dass dieses Individuum überlebt, sondern nur eine erhöhte Wahrscheinlichkeit. Noch ein Missverständnis ist, dass evolutive Prozesse Jahrmillionen dauern. Dabei entwickelt sich einiges sehr schnell, wie Antibiotikaresistenzen.

Obwohl vieles auf Wahrscheinlichkeiten beruht, finden sich in Darwins Werken keine Berechnungen. Weshalb nicht?

Er war kein guter Mathematiker. Deshalb gibt es in seinen Werken keine wirklich quantitativen Überlegungen. Quantifizierung ist die Sprache der modernen Evolutionsforschung. Darwin hat die Mechanik der Evolution verstanden, konnte sie aber nicht in mathematische Gedanken fassen. Dabei gab es schon damals Differential- und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Das Instrumentarium war eigentlich vorhanden. Mich verblüfft, dass er es nicht angewendet hat.

Hat sich die moderne Evolutionsforschung mit der Quantifizierung von Darwins Theorie entfernt?

Die moderne Evolutionsforschung steht fest auf Darwins Grundprinzipien. Die grösste Entwicklung jedoch war, dass die Genetik auf jeder Ebene von Darwins Lehre integriert wurde. Dank neuen Technologien wie dem Next Generation Sequencing, mit dem Gene relativ kostengünstig bis zu ihren einzelnen Bausteinen analysiert werden können, wird die Evolutionsforschung in den kommenden Jahren einen starken Schub erfahren. Technisch wird es möglich, Veränderungen direkt auf genetischer Ebene vor Ort, also im Feld, zu sehen. Weiter fortschreiten wird auch die Mathematisierung, die Modellbildung. Auch die Populationsgenetik spielt eine wichtige Rolle. Diese erlaubt es uns, genetische Prozesse mit grosser Präzision zu verfolgen bis hin zur Voraussage, wie sich Genfrequenzen aufgrund von Selektionsfaktoren ändern müssen. Nicht zu vergessen ist auch die Weiterentwicklung der Evolutionstheorie durch Bill Hamilton in den 1960er Jahren, die mit dem Konzept der inklusiven Fitness die Genetik neu mit dem Phänotyp verbunden hat. Damit hat man Klarheit bekommen, welches die essentielle Währung im Evolutionsgeschehen ist, nämlich die unterschiedlichen Genvarianten. Man hat auch gesehen, dass die Weitergabe von Genkopien wichtig ist. Darwins Theorie wurde damit auf eine umfassende Grundlage gestellt, die heute im Wesentlichen die moderne Evolutionsforschung ausmacht.

Woran arbeiten die Evolutionsforscher an der ETH?

An der ETH wird schwergewichtig die sogenannte Mikroevolution bearbeitet. Dabei geht es um die Veränderung in Populationen, wie etwa Antibiotikaresistenzen und die Frage nach Anpassungen. Man will beispielsweise wissen, welchen Vorteil höhere Rekombinationsraten haben, wie gross die Fitnesskosten für die Immunantwort sind und welcher Umweltfaktor welche Art von Evolution bzw. Anpassung bewirkt. Weniger stark bearbeitet wurde hier die Makroevolution, also die Frage, welche Prozesse zur Artbildung führen. Doch das kommt wieder. Die Forschung sucht verstärkt nach Genen, welche Fortpflanzungsbarrieren zwischen Populationen verursachen, so dass neue Arten entstehen. Damit kommen wir eigentlich zurück auf die Urfrage Darwins, der sich vor allem über das Thema der Artbildung Gedanken machte.

Ereignisreiches Darwinjahr

Das Jahr 2009 steht ganz im Zeichen von Charles Darwin und der Evolutionstheorie. Dazu organisieren verschiedene Hochschulen, Museen sowie Life Science Zurich eine Reihe von öffentlichen Anlässen und Aktionen. Die Höhepunkte sind eine Ausstellung zum Lebensbaum, dem «tree of life», vom 4. bis 6. September in der Bahnhofshalle des Züricher Hauptbahnhofs. Ab dem 17.9. findet eine Ringvorlesung zum Thema Evolution statt und am 23. und 24. November wird das alljährliche Latsis-Symposium an der ETH ebenfalls zum Thema Evolutionstheorie abgehalten. Das vollständige und laufend aktualisierte Jahresprogramm befindet sich unter http://www.darwinyear09.ch