Veröffentlicht: 11.12.08
Rechnergestützte Physik

Wenn die Theorie zu perfekt ist

Bei sehr tiefen Temperaturen kann Helium gleichzeitig fest und flüssig sein. Doch lange erklärten Theoretiker das Phänomen falsch. Computersimulationen der ETH Zürich haben gezeigt, dass erst Verunreinigungen den Effekt ermöglichen.

Niklaus Salzmann
Perfekte Heliumkristalle sind normale klassische Kristalle, in denen die Atome an ihren Gitterpositionen lokalisiert sind. An einem Kristalldefekt, wie der Korngrenze in diesem Bild, verlieren die Atome durch quantenmechanische Effekte ihre genaue Position. Sie werden delokalisiert und können entlang des Defekts reibungsfrei
Perfekte Heliumkristalle sind normale klassische Kristalle, in denen die Atome an ihren Gitterpositionen lokalisiert sind. An einem Kristalldefekt, wie der Korngrenze in diesem Bild, verlieren die Atome durch quantenmechanische Effekte ihre genaue Position. Sie werden delokalisiert und können entlang des Defekts reibungsfrei

Matthias Troyer und sein Team führen Experimente am Computer durch. Troyer ist Professor für Computational Physics (rechnergestützte Physik) am Institut für Theoretische Physik der ETH Zürich. Er simuliert Quantenphänomene wie „Supersolidity“, was mit „Suprakristall“ übersetzt werden kann. Dieses Wort beschreibt einen Zustand der Materie, der bei sehr tiefen Temperaturen auftreten kann, in dem sie gleichzeitig fest und „supraflüssig“ zu sein scheint.

Das Militär frägt nach

Doch das Wort ist missverständlich, wie ein Kollege Troyers, der sich in den USA mit dem Phänomen befasst, feststellte. Denn die US-Navy dachte, „supersolid“ bedeute „extrem hart“ und fragten deshalb den Physiker, ob man ein solches Material zur Panzerung von Schiffen verwenden könne oder wenigstens in eine Spraydose geben oder jemanden damit umbringen könne. Der Physiker antwortete mit nein – denn „supersolid“ bedeutet nicht superhart. Daraufhin zeigte die Armee kein Interesse mehr.

Direkte Anwendungen für „Supersolidity“ sind keine in Sicht, die Forscher betreiben Grundlagenforschung. Eine Gruppe Physiker um Matthias Troyer hat dabei aufgeklärt, wie das Phänomen zu Stande kommt. Ihre Ergebnisse haben sie in einer Artikelserie in Physics Review Letters veröffentlicht. Erstautor der Artikel ist Postdoktorand Lode Pollet, der inzwischen von der ETH Zürich an die renommierten University of Massachusetts in Amherst und Harvard in den USA gewechselt ist und Verhandlungen über eine Professur führt – dabei ist Pollet noch keine dreissig Jahre alt.

Eine falsche Erklärung

Theoretiker haben 1969 das Phänomen „Supersolidity“ erstmals vorhergesagt. Ihre Erklärung war falsch, doch dies blieb lange unbemerkt. Erst 2004 gelang es, “Supersolidity“ in einem Experiment zu messen. Dabei wurde ein scheibenförmiger Heliumkristall an einer Feder befestigt und hin und her rotiert. Die Frequenz der Schwingung hängt in dieser Konstellation von der rotierenden Masse ab. Die Forscher stellten fest, dass die Frequenz höher wurde, wenn sie die Apparatur unter 0.2 Kelvin – also fast bis zum absoluten Temperaturnullpunkt – kühlten. Offenbar drehte sich ein Teil der Masse nicht mehr mit; sie verhielt sich suprafluid, also wie eine reibungsfreie Flüssigkeit. Mit anderen Worten: Sie war „supersolid“ geworden.

Soweit stimmten die Messungen noch mit der Theorie überein. Doch weitere Experimente zeigten, dass der Anteil des Kristalls, der supersolid wurde, mit der Anzahl der Defekte im Kristall zunahm. Die Theoretiker, welche das Phänomen vorhergesagt hatten, hatten jedoch mit perfekten Kristallen gerechnet, also ganz ohne Defekte.

Kein Effekt bei perfekten Kristallen

An diesem Punkt wurde das Problem für die Gruppe für rechnergestützte Physik um Matthias Troyer an der ETH und deren Kollegen in den USA und Kanada interessant. Diese Physiker führen zwar ebenfalls Experimente durch, aber nicht am Material selber, sondern an Computermodellen. So können sie das Experiment besser kontrollieren. Sie experimentierten etwa mit Kristallen ohne Verunreinigungen, also perfekten Kristallen, wie sie im Labor nicht gezüchtet werden können. Bei diesen trat keine „Supersolidity“ auf.

Die Wissenschaftler erzeugten aber auch virtuelle Kristalle mit Defekten, etwa indem sie die Struktur der einen Hälfte des Kristall in eine andere Richtung orientieren als die zweite Hälfte. Dieses Experiment rechneten sie in rund hundert Variationen mit verschiedenen Temperaturen und Orientierungen durch. Das Resultat: „Supersolidity“ trat dort auf, wo die Atomschichten verschiedener Orientierung aufeinandertrafen, und zwar nur, wenn die Schichten nicht allzu gut ineinander passten. Es hing also von den Defekten ab, genau wie in den Laborexperimenten.

Am amerikanischen Zoll

Diese Resultate stiessen bei einigen Wissenschaftlern zuerst auf Ablehnung. Dass die Verunreinigungen das Phänomen erst ermöglichten, passte nicht ins Weltbild der Theoretiker, die in ihren Betrachtungen Verunreinigungen meist ausser Acht lassen. Inzwischen ist die Erklärung jedoch breit akzeptiert.

Und nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler interessieren sich für die Ergebnisse der Physiker. Als Lode Pollet in die USA einreiste, fragte ihn ein Zollbeamter, ob er nicht der Mann sei, der sich mit diesem Material befasse, das gleichzeitig fest und flüssig sei. Offenbar hat der amerikanische Staat sein Interesse doch noch nicht ganz aufgegeben.

Literatur

Pollet L, Boninsegni M, Kuklov AB, Prokof’ev NV, Svistunov BV & Troyer M. Local Stress and Superfluid Properties of Solid 4He. Phys. Rev. Letters 2008 Aug 29; 101 (097202). doi:10.1103/PhysRevLett.101.097202.

Weitere Artikel der Gruppe Troyer zum Thema:
10.1103/PhysRevLett.101.155302
10.1103/PhysRevLett.99.035301
10.1103/PhysRevLett.98.135301
10.1103/PhysRevLett.97.080401