Veröffentlicht: 14.05.08
Mittwochskolumne

Toni Walker aus der Alpinen Brache

Ulrich Weidmann
Ulrich Weidmann, Professor für Verkehrssysteme.
Ulrich Weidmann, Professor für Verkehrssysteme.

Er hat mich schon als Kind beeindruckt – nennen wir ihn Toni Walker: Zunächst natürlich, weil er stellvertretender Bahnhofvorstand an der Gotthardbahn war. Dann aber auch als langjähriger Gemeindepräsident von Wassen im Kanton Uri. Er war stets stolz auf das, was er für seine Gemeinde zu erreichen vermochte, einer kleinen Gemeinschaft mit einer großen Fläche und noch mehr Granit. Ebenso stolz war er auf seine Gotthardbahn und die internationalen Züge mit ihren klingenden Namen. Er sorgte dafür, daß sie bei jedem Wetter pünktlich durchs Reusstal rollten.

Toni Walker ist – Sie ahnen es - nicht unschuldig an meiner Berufswahl. Dazu haben Erlebnisse wie etwa jene stürmische Winternacht beigetragen, in welcher ich als kleiner Junge – unter seiner Aufsicht notabene – eigenhändig den Zugsverkehr zwischen den Blockstellen Pfaffensprung und Eggwald steuern durfte. Sicher illegal, mutmaßlich verjährt und jedenfalls typisch für ihn: (Grosse) Ernsthaftigkeit gepaart mit (viel) Schalk, einer (überlebensnotwendigen) Portion Sturheit und einer (erfrischenden) Prise zivilen Ungehorsams.

Kürzlich wurde ich wieder an Toni Walker erinnert: In einem Projekt befaßten wir uns mit der Mobilität im peripheren Raum und dabei auch mit der Frage, worin sich diese Räume von anderen Regionen unterscheiden. Bei der Sichtung der entsprechenden Literatur zogen wir unter anderem die Studie „Die Schweiz – Ein städtebauliches Porträt“ des ETH-Studios Basel zu Rate:

„Alpine Brachen sind Zonen des Niedergangs und der langsamen Auszehrung. Ihr gemeinsames Merkmal ist eine anhaltende Abwanderung. Sie umfassen jene Gebiete der Alpen, die weder durch Städtenetze an die urbane Ökonomie angeschlossen sind noch eine nennenswerte eigene Tourismusindustrie aufbauen konnten. Die Sogwirkung der urbanen Netze hat in diesen Gebieten eine negative Dynamik ausgelöst und entzieht ihnen zunehmend ihre Energie. ... Selbst wenn sie über einen Autobahnanschluß verfügen, bleiben sie peripher: Was fehlt, ist weniger der Anschluß an die urbane Welt als die physische Präsenz des Urbanen.“

Rums – das sitzt! Hier gibt es nichts zu gewinnen, nicht mal Architekturpreise. Im Materialienband stieß ich schliesslich auf die Fallstudie Wassen / Uri und damit auf Toni Walker. Das heißt: Eben nicht, denn Menschen gibt es auf den Fotos keine, einzig verschwommen im Schneesturm als Strassenarbeiter. Sie sind wohl gerade daran, den Sustenplatz für Urbaniker und Agglomeriten befahrbar zu halten. Andernfalls könnten diese in der Alpinen Brache steckenbleiben und ein Peripherie-Trauma erleiden.

Nun zählt Wassen ja immerhin noch mehrere hundert Einwohnerinnen und Einwohner, was alleweil für ein paar Bilder gereicht hätten. Aber entweder haben sich diese Leute konsequent vor den Fotografen versteckt, wie dies bei Völkern ohne Kontakt zur Außenwelt (siehe obenstehendes Zitat) bisweilen geschieht. Diese Erklärung ist indessen nicht stichhaltig, denn es sind Fotos von Wassener Einheimischen überliefert. Oder aber – das drängt sich mir als wahrscheinlichere Vermutung auf - wurden sie von den Studienverfassern zur abstrakten, statistischen Größe vereinfacht. In dieser Form verlieren sie natürlich ihr persönliches Gesicht und wirken damit nicht mehr überaus photogen...

Statistische Daten sind heute in einer Überfülle verfügbar und beliebige Auswertungen sind möglich. Signifikanzen werden selbst dort nachgewiesen, wo wir sie weder erwarten würden, noch diese nachvollziehen können. Wir stoßen damit in eine neue Sphäre der Erkenntnis vor! Tun wir dies wirklich? Die Interpretation bleibt weiterhin uns überlassen und bedingt Verständnis, oft auch Werturteile. Ein Beispiel: Unbestreitbar zeigen in Wassen viele Indikatoren nach unten. Aber ist das schlecht? Brachflächen hat man früher ausgeschieden, damit sich der Boden wieder erholen kann. Vielleicht gehört ein – möglicherweise zeitweiliger – Rückgang der Bevölkerung einer Region auch zur natürlichen Entwicklung eines Landes!

Ein zweites: Klassierungen verschaffen Überblick, aber sie ersetzen nie eine Strategie. Hinter den Daten verbergen sich Menschen, solche die bereits gegangen sind, vor allem aber solche, die noch da sind und bleiben wollen. Für die Zukunft ist nur eines relevant: Die aktive Gestaltung des Schicksals einer Region. Dies gelingt nur zusammen mit den Menschen, ihren Stärken und den Chancen, die sich daraus ergeben.

Wie würde Toni Walker darüber denken? Ich habe ihn nicht gefragt, aber ich behaupte als erstes: Er würde sich über diese Diskussion wundern. Im Weiteren würde er das Fehlen der „physischen Präsenz des Urbanen“ keineswegs vermissen, im Gegenteil wäre er über jeden urbanen Betonwürfel glücklich, vor welchem er verschont wird. Und schliesslich wäre er weiterhin sehr stolz auf seine Gemeinde und seine Gotthardbahn, Alpine Brache hin oder her.

Zum Autor

Mit Ulrich Weidmann gehört ein Vertreter des Departements Bau, Umwelt und Geomatik (D-BAUG) zum Kolumnistenteam. Er ist seit 1. Juni 2004 ordentlicher Professor für Verkehrssysteme am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT). Weidmann wurde 1963 als Bürger von Einsiedeln geboren. Nach seinem Bauingenieur-Studium an der ETH Zürich war er ab 1988 Assistent am IVT und schrieb in dieser Zeit seine Dissertation. Anschliessend fand Ulrich Weidmann den Weg in die Praxis. Von 1994 bis 2004 arbeitete er für die SBB. Er war unter anderem massgeblich beteiligt an der Neuausrichtung des Regionalverkehrs auf die Liberalisierung sowie am netzweiten Ausbau der S-Bahnen in der Schweiz. 2001 bis 2004 führte er den Geschäftsbereich Engineering und war dabei für die gesamte Bahntechnik vom Gleisbau über die Umwelttechnik bis zur Zugsicherung verantwortlich. Zudem leitete er bauherrenseitig das Projekt Führerstandssignalisierung der Lötschberg-Basislinie. Mit viel Erfahrung im Gepäck kehrte er an das IVT der ETH zurück. Sein Lehrstuhl befasst sich in der Forschung mit der Verkehrserschliessung von Agglomerationen, dem Gütertransport im Rahmen der globalen Logistik, dem stabilen Betrieb hochbelasteter Netze des Bahn- und Stadtverkehrs sowie den Prozessen des Fussgängerverkehrs. Persönliche Schwerpunktthemen sind die Ordnungspolitik und Regulierung, Unternehmensstrategien und Innovationsmanagement.

 
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